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von Yagé
Über den Grad der Isolation kann man diskutieren, aufgrund der vorhandenen Tendenz lässt sich aber auf eine potentielle Entwicklung schließen. Beispielsweise fällt mir auf, dass ich, je mehr ich mich ausschließlich im Beisein fremder Menschen befinde, zunehmend eine unterschwellige Distanz zu mir aufbaue. Insbesondere dann, wenn ich über Tage keine Zeit finde, mich mit mir, meinem Bewusstsein, meinem Charakter und meinen Ideen zu beschäftigen; wenn die anwesenden Personen zudem einem anderen Bild entsprechen, als dem meinen, authentischen, entfremde ich mich gewissermaßen von mir selbst. Das werte ich nicht negativ, auch stellt sich dieser Effekt nur vorübergehend ein; aber in andauernder, mir völlig fremd erscheinender Gesellschaft, würde ich, ohne entsprechenden Ausgleich, zwangsläufig zu einem anderen Menschen. Das kann niemand bestreiten.
Andererseits beobachte ich, in Zeiten der Einsamkeit und Isolation, einen sehr intensiven und innigen Draht zu mir selbst. Mehr ich selbst, denn je, passt sich meine Form mehr dem Unterbewusstsein an. Zum Beispiel erscheinen mir Zeiten, in denen ich gewissermaßen zu Einsamkeit gezwungen war, durchweg als die produktivsten meines Lebens. Noch stärker wird dieser Effekt, wenn man - einerseits schmerzlich, andererseits bewusst gewollt - die Einsamkeit sucht und nutzen lernt. In diesen Zeiten wird die Selbstwahrnehmung enorm gestärkt und ich entwickle ein starkes Gefühl der Einigkeit mit und zu mir selbst.
Wenn man diese Begebenheit fiktiv ausbaut, könnte man sich die Frage stellen, was passieren würde, wenn man über Monate hinweg menschlichen Kontakt meidet. Dazu bedarf es keinen Isolationstank. Es reicht die willkürliche Entscheidung, menschliche Kontakte zu meiden. Kleinkinder und Babys in dieser Situation müssen zwangsläufig eingehen, da sie in den ersten Jahren von der Außenwelt ernährt und geprägt werden. Ohne die Liebe, welche ihnen mitgegeben wird und ohne ausreichend Informationsgehalt um die Welt und ihrer Inhalte, kann kein Lebewesen bestehen. Aber irgendwann ist der Mensch fertig. Er agiert in einem Kreislauf, im Spiel des Lebens mit sich selbst. Um sich nicht selbst zu spüren, ist er im unbewussten Leben gezwungen, dauerhaft der Langeweile und Ermüdung durch sich selbst zu entgehen, indem er seine Aufmerksamkeit ständig ablenkt. Er geht ins Kino, trifft sich mit anderen Menschen, informiert sich über die Geschehnisse in der Welt, verreist, betreibt Sport oder genießt die sanfte Berieselung des Fernsehens. Insbesondere dann, wenn sie bei und mit sich selbst alleine sind (z.B. im Isolationstank) erfahren die ausschließlich auf die Außenwelt bedachten Menschen, ein eigenartiges Gefühl der Langeweile. Die ständig fließende Quelle der Welt versiegt und die eigene Existenz ist zu schwach, um eine gewisse Zeitspanne zu überbrücken.
Ich denke, viele von uns sind soweit, sich selbst als eigenständige Lebensform zu erkennen und zu lieben. Sie besitzen die Fähigkeit, in Einsamkeit mit sich zu verweilen, ohne daran zu ermüden - sie haben darüber hinaus sogar erkannt, dass es förderlich sein kann, die Einsamkeit zu suchen, die eigene Identität auszubauen; sie selbst zu fühlen und zu lieben, als einzig zentraler Punkt, durch den alle Welt fließt.
Nur sind auch wir den irdischen Interaktionen nicht befreit. Wir leben in einer Gesellschaft und sind in dauerhafter Kommunikation mit dieser. Doch was würde passieren, wenn ein mit Identität versehener Mensch, der genügend von der Welt erfahren hat, um sich selbstständig zu entwickeln, für einen Zeitraum von 6 Monate ausschließlich unter Tieren, in der Natur lebt? Wie würde er sich entwickeln? Würde er verrückt oder weise? Würde beides einher gehen? Zu den schamanischen Ritualen zählt diese Form der Einsamkeit. Bereits junge Erwachsene werden in entfernte Gebiete gesetzt, leben mit der Natur, verbinden sich mit ihr - zunächst kommen in regelmäßigen Abständen ein Meister, der für Nahrung sorgt; doch bald versiegt die Quelle, und jener junge Mensch muss die Widrigkeit des Lebens selbstständig ertragen. Dabei lernt er dem Anschein nach sehr viel - das freie und wilde Überleben, die Erkenntnis um sich und seines Daseins, die Verschmelzung mit der Natur.
Doch die dortigen indigenen Völker haben eine andere Lebensphilosophie als die westliche Gesellschaft. Umso mehr fasziniert mich das Szenario, inwieweit jemand von uns, im dauerhaft autarken Leben, sich entwickeln oder verrückt werden würde.
"Die Schachnovelle" von Stefan Zweig gibt einen sehr interessanten, psychologisch präzisen Eindruck davon, wie sich ein Mensch in dieser Isolation entwickelt. In dem Fall aber eingesperrt, in einen Raum, über Monate hinweg, und nur ausreichend ernährt. Doch gefangen in einem Raum kann man sich wenig entfalten, im Freien, in Interaktion mit der Natur, ginge dies weit mehr.
Pauschalisieren kann man hierbei bestimmt nichts. Aber mir scheint die Einsamkeit - und weitestgehend auch die Isolation - ist eines der wirkungsvollsten Mittel, die eigene Identität zu erkunden. Beispielsweise erkennt man recht schnell, wer in jungen oder späteren Jahren, sehr stark durch Einsamkeit geprägt wurde. Schlimm sind natürlich die Fälle, in denen aus der Einsamkeit soziale Defizite erwachsen sind, die im Nachhinein zu einer Ausbildung von beispielsweise "Soziophobie" geführt haben. Das sind die großen Schattenseiten der Einsamkeit in jungen Jahren.
Die Realität ist Spiegelbild der Seele; wird nun das Innere verzerrt, so verschieben sich auch die Wesenszüge der Wirklichkeit.