Der Kult der Akademiker
Therapeuten Nach Drogenexzessen im Heilpraktikermilieu schildern zwei Aussteigerinnen die gefährlichen Praktiken in der verschwiegenen „Psycholyse“-Szene.
Der 27. April ist für Sabine Bundschu alljährlich ein besonderes Datum. „Da feiere ich meine Wiederauf erstehung“, sagt sie. Am fraglichen Frühlingstag 2014, einem Sonntag, erlitt sie bei einem Drogentrip einen Schlaganfall und zwei Hirnblutungen. Doch obwohl sie tagelang in Lebensgefahr schwebte, wurde sie wieder völlig gesund, nichts blieb zurück. „Ein Wunder“, glaubt sie. Geheilt ist die 58-jährige Musikerin aus München auch in anderer Hinsicht. Seit ihrem Zusammenbruch rührt sie keine Drogen mehr an. Stattdessen kämpft Bundschu vehement gegen Ärzte und Psychologen, die sie für ihren beinah tödlichen Kollaps verantwortlich macht. Gegen eine Bewegung, deren Mitglieder auf eine umstrittene und dazu verbotene Methode setzen: Sie verabreichen bei Therapiesitzungen und Workshops illegale Drogen mit dem Ziel, ihren Patienten zur „Bewusstseinserweiterung“ und zur „Erleuchtung“ zu verhelfen. Die sogenannte Psycholyse ist eine Art Geheimmedizin, die in Hinterzimmern betrieben wird. Praktiziert wird sie vor allem von Ärzten, Psychologen und angelernten Laien, die fest an ihre Wirksamkeit glauben, in ihr eine Art Königsweg in die Seele sehen. Es sind Überzeugungstäter. „Hier sind keine durchgeknallten Hippies am Werk“, sagt Aussteigerin Bundschu. Es handele sich vielmehr um einen „brandgefährlichen Akademikerkult“.
Publik wird die Methode nur, wenn dabei zwei Menschen sterben wie in Berlin, als 2009 ein Arzt illegale Drogen falsch dosierte. Oder wenn, wie 2015 im niedersächsischen Handeloh, 29 Teilnehmer eines Heilpraktikerseminars kollabieren und von 160 Helfern gerettet werden müssen. Der Seminarleiter, der 52-jährige Stefan S., muss sich demnächst vor dem Landgericht Stade verantworten (SPIEGEL 26/2017). Abgesehen von derart spektakulären Vorfällen, bewegt sich die Szene meist unterhalb des Polizeiradars. Bei SPIEGEL-Anfragen ließen sich die Gesprächsteilnehmer mehrerer Landeskriminalämter den Begriff Psycholyse teilweise zweimal buchstabieren. Auch bei der Hamburger Polizei weiß niemand Genaues, obwohl die meisten Teilnehmer des missratenen Heilpraktikerseminars in Handeloh aus Hamburg und Umgebung stammten. Kein Zufall: Die Drogensitzungen, untermalt mit psychedelischer Musik und teilweise begleitet mit fernöstlichen Entspannungsübungen, werden meist in der Provinz zelebriert, avisiert nur über Internetforen und Mundpropaganda, oft getarnt als private Feiern. Aussteigerin Sabine Bundschu weiß einen weiteren Grund für die schwierigen Ermittlungen. „Bei der ersten Sitzung musste ich einen Eid schwören, stets das gemeinsame Geheimnis zu wahren“, berichtet sie, „auch gegenüber der Polizei.“ Andernfalls habe sie mit schlimmsten Folgen zu rechnen: „Wenn du uns verrätst, wird dir etwas Schreckliches zustoßen.“ Davor hatte sie lange Angst. Dass sie trotzdem redet, begründet sie mit der zunehmenden Gefahr für psychisch labile und damit anfällige Personen, sich der Szene anzuschließen: „Die Leute müssen vor diesen Fanatikern gewarnt werden.“ Aus einem ähnlichen Grund entschloss sich auch die Drehbuchautorin Ariela Bogenberger, ihr Schweigegelübde zu brechen. Die Autorin, die schon zweimal für Fernsehfilme mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, sieht einen gefährlichen Trend: „Die Szene versucht jetzt, junge Psychologiestudenten zu gewinnen“, sagt sie. „Das muss verhindert werden.“ Beide Frauen, die auf der Internetseite der Kirschblütler der Unwahrheit bezichtigt werden, waren über Jahrzehnte hinweg ein Teil der Bewegung. Beide hatten früher psychische Probleme, beide wurden von Freunden in das Schweizer Dorf Lüsslingen-Nennigkofen geschickt. Dort gerieten sie in den Sog des Psychiaters Samuel Widmer, eines überzeugten Verfechters der Psycholyse. Der Arzt, der im Januar 2017 verstarb, behandelte jahrzehntelang unzählige Patienten mit psychedelischen Drogen. Außerdem gründete er eine Kommune, die sogenannte Kirschblütengemeinschaft, in der er mit zwei Frauen und elf Kindern lebte und rund 200 Anhänger um sich scharte. „Für die war er eine Art Gott“, erinnert sich Künstlerin Bogenberger, „und für mich auch.“ Von ihm erhoffte sie sich Erlösung von allen Nöten. „Ich habe ein richtiges Doppelleben geführt“, berichtet die 55-Jährige. „Einerseits war ich Autorin, Mutter, Ehefrau, andererseits Mitglied einer Sekte.“ Denn natürlich sei die Kirschblütengemeinschaft nichts anderes als eine Sekte gewesen: mit einem Guru, nach dessen Pfeife alle tanzten, mit rigorosen Vorgaben nach innen, mit Abschottung nach außen. Besonders ungern erinnert sich Bogenberger an Sitzungen, bei denen die Teilnehmer unter Drogen gesetzt und zu Sex mit wechselnden Personen animiert worden seien, angeblich zwecks Abbau von Eifersucht und Besitzansprüchen. „Ich habe mit Männern zusammengelegen, die ich da nicht haben wollte“, bedauert sie. „Aber ich dachte, ich muss das tun, es trägt zur Heilung bei.“ Noch heute schäme sie sich dafür, ihre Familie habe darunter sehr gelitten. Schlimmer als jedes Einzelschicksal sei jedoch die ständig wachsende Verbreitung der gefährlichen Therapiemethode. Widmer habe unzählige Ärzte und Psychologen in seiner Lehre unterwiesen, die meisten aus Deutschland. Die würden jetzt weitere Gruppen aufbauen, neue Mitglieder unter Psychologiestudenten anwerben, das geheime Netzwerk der Psycholyse-Anhänger auszubauen versuchen. Sie selbst, erklärte sie vergangene Woche im bayerischen Fernsehen, habe früher dazu beigetragen, Menschen in die Sekte zu locken. Heute tue ihr das sehr leid. „Ich war in der Meisterklasse, das war eine besondere Auszeichnung“, berichtet die Autorin. Obwohl keine Medizinerin, habe sie Seminare leiten, Neulinge mit den Regeln vertraut machen und auf die gemeinsame Sache einschwören dürfen. „Wir fühlten uns als Elite“, sagt Bogenberger rückschauend, „Leute ohne unser Weltbild nannten wir herablassend Durchschnittsmenschen.“ Die Drogenseminare liefen immer nach dem gleichen Ritual ab, berichtet Aussteigerin Sabine Bundschu, „grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Substanzen“. Zunächst werde meist die Partydroge MDMA, also Ecstasy, verteilt. Wenn die Wirkung nachlasse, etwa nach vier Stunden, komme eine zweite Substanz wie LSD dazu – jenes Halluzinogen, das zu Wahnvorstellungen und Panikattacken führen kann, dem jedoch eine besonders bewusstseinsverändernde Wirkung zugeschrieben wird. Bezeichnend dabei: Der jeweilige Stoff werde nie beim Namen genannt. Stattdessen sei von „Sakramenten“ die Rede. „Eine verantwortungslose Verharmlosung“, kritisiert Laszlo Pota vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Wer Menschen in Lebenskrisen mit Drogen zu heilen versuche, „der weiß nicht, was er tut. Er setzt nicht nur deren Gesundheit, sondern auch deren Leben aufs Spiel“. Zu Beginn der Behandlung fühlte sich Bundschu „wie im Paradies“: Im Drogenrausch glaubte sie, schärfer zu sehen, besser zu hören, tiefer zu empfinden. Ihre Probleme waren weit weg. Weil sie hinterher umso massiver zurückkamen, versuchte sie immer häufiger, mithilfe der chemischen Substanzen alles zu vergessen. Gab für Seminare und als Kurse getarnte Drogen-Meetings immer mehr Geld aus, bis zu ihrem Ausstieg rund 50000 Euro. Dass es mit der viel beschworenen Solidarität und Liebe innerhalb der Szene nicht weit her war, erlebte die Aussteigerin immer dann, wenn es brenzlig wurde. Wenn Teilnehmer im Drogenrausch ausrasteten, in Krämpfe fielen, sich übergeben mussten oder vor Schmerzen schrien, konnten sie nicht mit Mitleid rechnen. „Das galt als Zeichen inneren Widerstands“, berichtet Bundschu, „es hieß, die Psyche wehre sich gegen die Bewusstseinserweiterung.“ Deshalb hätten zwei Mitglieder der Szene sie nach ihrem Zusammenbruch über 55 Stunden liegen lassen, ohne Hilfe zu holen. „Sie glaubten, das Böse müsse raus.“ Dass jetzt ausgerechnet in ihrem Heimatland Bayern offen für die Psycholyse geworben wird, findet die Münchnerin skandalös. Im malerischen Pfaffenhofen an der Ilm gründete der Diplompsychologe Christoph Kahse im Juni 2016 die Psychedelische Gesellschaft Deutschland. Auf deren Website heißt es unverblümt, MDMA und LSD gehörten in die Legalität und in die Therapie, in zahlreichen Beiträgen wird Drogenkonsum befürwortet und verharmlost. Kahse selbst vergleicht die Entdeckung der Psycholyse mit der Erfindung des Fernrohrs. Damals habe das Fernrohr erst den richtigen Blick auf die Sonne und die Planeten ermöglicht, heute eröffne die Psycholyse die Aussicht auf ein neues Welt- und Menschenbild. Zwar bestreitet der Psychologe, selbst illegale Drogen zu verabreichen. Eine Reportage im Bayerischen Fernsehen legt etwas anderes nahe. Zu sehen sind heim liche Filmaufnahmen einer Gruppensitzung. Ein Teilnehmer erklärt dazu, dass Kahse der Gruppe die bevorstehende Abgabe von Ecstasy und LSD ankündigte – er selbst behauptet jedoch, nur Aufklärungsarbeit geleistet zu haben. Trotzdem womöglich einer der seltenen Anlässe, gegen einen Therapeuten der Szene vorzugehen. „Wir haben ihn auf dem Schirm“, bestätigte ein Drogenexperte der Polizei.
Bruno Schrep