Aus dem All betrachtet, wirkte der Mars wie eine kupferfarbene Laterne, die nur noch schwach brannte und wohl bald verlöschen würde. Als sich das Jupiter-Raumschiff jedoch näherte, sah der Mars wie eine große Blüte aus.
Kerac, der Marsmensch, stand in der Mitte des Schiffes. Er betrachtete die liebliche verblaßte Blüte, die sich entfaltete wie die zarten Blumenblätter einer schönen Erinnerung. Er hatte fast Angst hinzusehen.
Doch innerlich wußte er ganz genau, was die zwanzig verflossenen Jahre seiner Heimat zugefügt haben mußten. Auf den ersten Blick schien der Mars noch ganz der alte zu sein. Heimweh erfaßte ihn. In seine Augen traten Tränen. Als das Schiff jedoch tiefer tauchte, schien das Gesicht des Planeten voller Narben zu sein. Mitten in den Wiesen hatte sich eine Stadt ausgebreitet. Ihr Muster aus schwarz-weißen Klecksen sah aus wie das hervorquellende Auge eines Idioten. "So etwas Geschmackloses!" schimpfte Kerac, als er es erblickte. "Was für eine Bescherung!"
Seine spinnenartigen Hände umfaßten fester die silberne Flöte, auf der er seine Symphonien und seine Volksmusik komponiert hatte - das einzige Bindeglied zu seiner Vergangenheit als berühmter Komponist und Musiker.
Kerac fröstelte, als ob ein kühler Hauch über ihn hinstreichen würde - eine Mischung aus Bedauern, Furcht und tiefem Groll. Nun konnte er den Grundriß deutlicher erkennen. Die Stadt wirkte völlig ungeplant. Sie war mehr ein Beweis für Niedergang als für Fortschritt. Es gab keinen Zweifel, daß diese Stadt von den ungeschickten Jupiter-Ansiedlern zusammengeschustert worden war. Verwahrlosung und der Charakter dieser bläßlichblauen Geschöpfe vom Jupiter waren für ihn Synonyme.
Highways schossen aus dem Stadtkern und streckten metallene Fangarme gen Süden zu drei anderen Jupiter-Städten. Jede von ihnen erschien dem Auge genauso unproportioniert und unschön wie die erste Stadt.
Teils schimpfte Kerac in sich hinein, teils richtete er seine Wut gegen den gedrungenen, schlaffen, blauhäutigen Jupitermenschen, der mit schwarzen Schlitzaugen neben ihm stand.
"Schau was sie gemacht haben!" rief er. "Eine Million Jahre lang war dieses Tal grün und fruchtbar, übersät mit Blumen. Sie haben auf der Suche nach Mineralien den Boden aufgerissen. Jenes Gebirge dort im Süden war früher ein wunderschöner Anblick. Nun haben sie die Bergspitzen abrasiert und die Abhänge zerstört. Ist das eure Vorstellung, den Mars zu kolonisieren? Soll ich mich nach meinem langjährigen Exil vielleicht daran erfreuen?"
Kerac verstummte. Der blauhäutige Jupitermensch, der im Vergleich zu dem ungewöhnlich hochgewachsenen und schlanken Musiker klein wirkte, sagte nichts.
Das Gesicht des Verbannten wirkte wie ein einziges feines Netzwerk aus Linien. Bräunlich, mit kühnem Blick, glich es einem Adlerhaupt. Über ihm lag ein geheimnisvoller Schleier von Melancholie. Und nun schaute er hinunter auf die Gesichter von zehn Millionen toter Marsmenschen. Sie schrien nach ihm. Sie wollten nur eines: Rache.
"Siehst du den Fluß, der von den Hügeln kommt?" fragte Kerac und deutete mit dem Finger nach unten.
Der Jupitermensch preßte die dicken Lippen zusammen und blieb stumm. Der Verbannte sprach weiter.
"Ich wurde dort, wo die Berge purpurfarben sind, nahe der Quelle des Flusses, geboren. Schau genau hin! Ruiniert durch zwanzig Jahre voll Rauch, Ruß und Unrat. Jetzt ist aus meinem Fluß ein Abwasserkanal geworden!"
"Auf der Erde war es einst genauso schlimm", fuhr der Jupitermensch auf ihn los. "Wir machen hier die gleiche Entwicklung durch. Das Ziel rechtfertigt die Mittel."
Das kleine Jupiter-Raumschiff landete im Sturzflug und kam ruckend zum Stehen. Türen wurden geöffnet. Sekunden später schritt Kerac zum erstenmal seit zwanzig Jahren auf dem Marsboden. Es war der gleiche schwammartige, feucht riechende Boden, auf dem er als Kind gelaufen war. Jetzt war er jedoch übersät mit Unrat, zerfurcht und zerschrammt von den Fahrgestellen der Raumschiffe und gefleckt vom Maschinenöl.
Kerac verharrte einen Moment. Hi-Fi-Lautsprecher, die um die Landebahn herum aufgestellt waren, spuckten Musik aus, grelle, chaotische Jupiter-Schlager voller Dissonanzen. Unbeherrscht fluchend, holte Kerac mit dem Fuß aus.
Eine leere Utanaflasche rollte klirrend davon.
Die beiden verließen den Raumhafen und wanderten in die Stadt. Sie betraten die engen Gäßchen, die von dem aufdringlichen Fischgeruch der Jupiternahrung erfüllt waren. Gelächter erscholl aus labyrinthartigen Durchfahrten. Glas splitterte. Ab und zu verhieß ein krachendes Gewehr Tod und erhöhte noch das Getöse der fremdartigen Stadt. Der Jupitermensch deutete auf eine schäbige Unterkunft.
"Schlaf hier!"
"Vielen Dank, nein!" Kerac machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung des Stadtrands, wo der verunstaltete Strom auf seinem Weg von den lila verfärbten Hügeln vorbeifloß. "Ich gehe dahin, wo ich atmen kann."
Der Jupitermensch machte keine Anstalten zu folgen, sondern grunzte nur: "Du wirst ins Gefängnis geworfen, wenn du dich nicht einmal pro Tag meldest. Ich werde dich morgen erwarten, Marsmensch !"
"Wenn du mich suchst, folge einfach dem Fluß ... "
Keracs Stimme glich einem Vogel, der in die herein brechende Dämmerung davonfliegt.
Er schritt hastig aus. Die Lippen waren zusammengepreßt. Auf seiner Seele lastete Trauer. Die grellen Lichter stachen ihm in die Augen. Die Jupitermusik gellte von Lautsprechertürmen, die über die ganze Stadt verstreut waren. Und einmal drang schwach das Kichern von Frauen an seine Ohren.
Die Sonne war gerade am Untergehen, als er den schweigenden Strom erreichte. Er kniete sich dort nieder und betete zu den Sternen, daß irgendein Plan all dies Schreckliche beenden möge.
Das Wasser berührte kalt seine Finger. Es war so kalt wie das Blut der Marsmenschen, die Selbstmord begangen hatten, um nicht von der Flut der Jupiter-Kolonisten überwältigt und beherrscht zu werden. Kerac dachte an die Pioniere, an seine ermordete Familie, an den entweihten Boden. Er betete noch heftiger.
"Kam, gib mir Kraft", flehte er.
Als die ausgedehnte Stadt hinter ihm lag, begann er mit neuem Elan auszuschreiten. Heiterkeit erfüllte ihn, ein Lied fiel ihm ein. Er hob die silberne Flöte an die Lippen und spielte seine Musik gegen die Hügel.
Ein leises Echo ertönte.
Sterne tauchten auf. Der Fluß neben ihm murmelte Melodien, wie er über die Kieselsteine rann. Plötzlich war die Zeit keine Barriere mehr. Zwanzig Jahre verschwanden wie ein Schleier. Alles war wieder friedlich. Es gab keine Eroberung, nichts als Schönheit und die Nacht.
Er drehte sich um, um die Jupiterstadt mit ihren Lichtern zu betrachten. Ein millionenäugiges Monstrum, das die Ebene entstellte. Musik unterbrach sein Flötenspiel. Musik von den Lautsprechern der Stadt, so sehr verstärkt, daß der Ostwind sie mit sich zu den Hügeln trug.
Kerac unterdrückte einen Fluch und ging weiter. Die irre Musik heftete sich an seine Fersen. Gab es kein Entrinnen?
Der Wind drehte sich. Die Musik der Stadt verstummte. Er seufzte vor Erleichterung auf. Es würde nicht mehr lange dauern, überlegte er. Er war in seine Heimat gekommen, um zu sterben. Er war alt. Die Wissenschaftler vom Jupiter hatten ihre Experimente mit seinem Körper und seiner Psyche beendet und schickten ihn jetzt zu seinem toten Planeten. Sie wußten sehr wohl, daß er allein keinen Schaden anrichten konnte. Er war der letzte der Goldenen Rasse.
Doch was war mit den Geschöpfen in den Marsbergen ? Jenen unzähligen Horden von mißgestalten, stammelnden Wesen, die in den Höhlen des Mars hausten. Sind sie genauso erbarmungslos vernichtet
worden wie die große Goldene Rasse?
Kerac 'wußte, daß die Schwarze Rasse nicht Selbstmord begangen hatte. Und es würde viel Zeit gekostet haben, um sie aus ihren Millionen Höhlen herauszuholen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer regte sich in ihm.
Er blickte über ein nur spärlich beleuchtetes Wüstenstück zu der toten und verlassenen Marsstadt Kam. Die Türme von Kam ragten in die dünne Luft. Zwischen ihnen lagen weite, symmetrisch angeordnete Alleen und Gärten wie die unbenutzten Schwingen eines gewaltigen Vogels, für immer zur Ruhe verdammt, nie mehr zum Flug bestimmt.
Vor gar nicht langer Zeit hatte diese Stadt geatmet und Millionen von Marsmenschen ernährt, sie aufgezogen, ihnen Reichtümer und Glückseligkeit bereitet, dank unzähliger Jahrhunderte des Friedens.
Kerac strich sanft über die Flöte, die allein ihm während seiner langen Verbannung auf Jupiter Trost gespendet hatte.
Er ließ den Blick wandern. Ein großer Schwarm von Vögeln erhob sich aus der toten Stadt - ein Zug von hoch fliegenden weißen Vögeln, die mit schrillen Schreien an den Sternen vorbeischwirrten. Immer wieder ertönten die Vogelschreie, wurden schwächer und schwächer, bis schließlich nur noch ein kaum hörbares Echo zurückkam.
Sie flögen über die künstlichen Jupiterstraßen hinweg und weiter zum Horizont, an dem viele Stunden später die Sonne aufgehen würde.
Dann ertönte ein tiefes Brummen. Das Brummen hatte begonnen, als die großen Kam-Vögel mit ihrem nachhallenden Lied hochflatterten. Seinen Höhepunkt hatte es erreicht, als die Vögel in die Ebene davonflogen. Nun wurde das Brummen schwächer. Kerac war jedoch klar geworden, was es bedeutete.
Als die Vögel aufgestiegen waren, erfolgte sofort das Gebrumme. Und es kam aus dem Boden, aus den dunklen Höhlen der Berge. Er wußte, wer das Brummen ausstieß: die Schwarze Rasse! Tief in ihren Löchern lebten sie also immer noch. Freudige Erregung erfüllte ihn. Es gab noch Marsmenschen! Kerac hatte Verbündete! Auch wenn sie nur stumpfsinnig und mißgestaltet waren.
Er hatte noch keinen Plan, als er sich den Höhlen der Schwarze Rasse näherte. Langsam ging er zwischen kahlen Wänden, die 150Meter hoch in den Himmel ragten. Es war, als ginge er durch die Granitblöcke einer Totenstadt. Tiefes Schweigen herrschte. Nur seine Füße verursachten auf den Felsen ein schurrendes Geräusch.
Er hielt an. Seine Erregung war gemischt mit leiser Furcht. Vor ihm raschelte etwas. Ein Schatten tauchte auf. Grüne Augen glotzten Kerac an. Tiefes, gutturales Knurren tönte aus der Dunkelheit.
Der Schatten bewegte sich schwerfällig, wie eine plumpe, halb menschliche Amöbe. Eine Masse aus schwarzem Fleisch, die kurz davor ist, den Menschen nachzuahmen. Das Wesen torkelte auf dicken schwarzen Beinen, tastete mit fetten, schwarzen Armen und klumpigen, hungrigen Fingern. Es öffnete ein breites, lippenloses Maul und stieß ein Grunzen aus.
Kerac zuckte zurück. Furcht preßte seinen Brustkorb zusammen wie ein Schraubstock. Seine Finger tasteten nach der silbernen Flöte. Doch er hob sie nicht an die Lippen. Was sollte Musik gegen dieses Schreckenswesen schon ausrichten?
Er machte einen Versuch, das Wesen anzureden.
"Mein Freund", sagte er sanft. "Wir sind Brüder. Wir sind von den Männern eines anderen Planeten verdammt worden."
Er machte eine Pause. Dann wiederholte er:
"Wir sind Brüder."
Das unmenschliche Wesen schwankte. Die Beine stolperten auf dem Felsboden in einer gräßlichen Imitation von menschlicher Bewegung. Etwas Ähnliches wie ein Arm griff in Keracs Richtung.
"Wollt ihr mir helfen", bat Kerac. "Die Bestien vom Jupiter entreißen euch alles. Sie nehmen eure Bodenschätze, verderben das Weideland. Bald werden sie kommen, um euch umzubringen. Bevor sie das tun, helft mir, bitte!"
Das Wesen drehte sich um und schnarrte. Aus den Höhlen schrillten ein Dutzend Stimmen Antwort. Kerac wich sechs Schritte zurück.
"Wir sind Brüder, verstehst du denn nicht? Wir haben die Pflicht, eine Aufgabe zu erfüllen! Helft mir dabei!"
Eine dumpf dröhnende Welle kam aus den tiefen Höhlen herauf. Über ihnen zog ein kreischender Schwarm Kam-Vögel vorbei. Als sie die Vögel hörten, stieß die Schwarze Rasse ein ohrenbetäubendes Geschrei aus. Hunderte von ihnen krabbelten, krochen, taumelten aus den stickigen Höhlen.
Kerac zuckte zusammen, als ihn Tausende von grünen Augen anstarrten. Sein Herz schmerzte vor Hoffnungslosigkeit. Sie begannen ihn zu umzingeln. Er floh.
Er rannte, bis die Felsmauern zurückwichen. Hier hielt er an. Die Schwarze Rasse kam nicht näher. Noch nie waren sie über diese Grenze gegangen. Noch nie. Nur ihre drohenden Stimmen drangen herüber.
Auch jetzt gaben sie ihre kurze Jagd auf und kehrten in ihre Höhlen zurück. Die Nacht war wieder so ruhig und schön wie die Sterne. Jupiter schien zu frohlocken.
Kerac kehrte auf wackligen Beinen in die Jupiterstadt zurück. Der Weg führte ihn an dem glitzernden Fluß entlang. Seine Haltung, jeder Schritt drückten tiefste Verzweiflung aus.
"Heda!"
Kerac ging weiter die enge Gasse entlang.
"Heda! Du!" Ein Jupitermensch, riesengroß mit langen Armen, taumelte aus einer grell beleuchteten Utana-Kneipe.
Kerac ging weiter.
"He!"
Der' Mann packte Kerac, wirbelte ihn herum und stieß ihn zu Boden.
"Wenn ich mit dir rede, hast du zuzuhören!" grunzte er. Er war gewaltig aufgedunsen und roch nach dem Oama-Kraut und nach Utana-Schnaps, der das Hirn vernebelte.
Kerac versuchte, aufzustehen. Doch mit dem schweren Stiefel stieß der Mann ihn wieder zu Boden. Das rote Gesicht grinste.
"Bist du der Marsmensch ?"
Kerac nickte, um einen weiteren Tritt mit dem Stiefel zu vermeiden.
"Das dachte ich mir." Der Jupitermensch lachte trunken. "Jetzt wirst du mich unterhalten, Marsmensch. Du mußt mir gehorchen."
Kerac schaute den Jupitermenschen an. Eine Menge begann sich zusammenzurotten. Der große Mann drehte sich zu der Masse um.
"Er ist der Marsmensch. Der Musiker, von dem ihr gehört habt."
Gemurmel erhob sich. Jemand sagte: "Also ist das ein Marsmensch? Bei den Zähnen von Jobar, der ist aber zerbrechlich!"
Der dicke Jupitermensch sprach weiter, nachdem er einen tiefen Schluck Utana aus einer Flasche genommen hatte: "Dieser Musiker wird jetzt für uns spielen. Schafft ihn 'rein." Eine Hand schubste Kerac. Er kam mühsam auf die Füße und protestierte. Eine Faust holte aus und gab ihm einen Schlag über die Lippen. Finger griffen nach ihm. Heiße, schwitzende Körper schoben ihn in die Utana-Kneipe, die grell erleuchtet war von gleißenden Lampen. Die Luft war dickvom Rauch brennender Oama-Zigaretten. Die Wände waren in einem abstoßenden Gelb gestrichen. Die niedrige Decke war schreiend bemalt mit Hunderten von verschiedenen alptraumhaften Mustern. Dadurch entstand bei jedem Besucher fast sofort das Gefühl von Betrunkenheit.
"Setz dich hier hin!" Der Anführer packte Kerac beim Kragen und stieß ihn in einen niedrigen Sessel. "Und jetzt", befahl er, "spiel mit dem da!" Kerac hatte ein sonderbares, kompliziertes Instrument vor sich, das entfernt an eine verrückte Nachbildung einer alten Orgel erinnerte.
Er machte eine hilflose Gebärde. "Darauf kann ich nicht spielen! Ich weiß nicht, wie?"
Der riesenhafte Jupitermensch wütete: "Wenn ich Brondar, jemandem befehle, zu spielen ... "
"Er ist nicht high", sagte jemand mit schriller Stimme. "Gebt ihm eine Oama-Zigarette! Laßt ihnUtana trinken."
"Ua! Ua!" schrien die anderen ihre Zustimmung.
Brondar wandte sich um. "Verschaff ihm Träume Nar. Ich werde dafür zahlen."
Nar holte rasch eine Flasche Utana hervor und bot sie Kerac an, der sich weigerte zu trinken.
Nar, ein anomal kleingewachsener Jupitermensch schielte. In seinem blauen knochigen Gesicht arbeitete es.
"Du weigerst dich?"
"Ich trinke nicht."
"So,du trinkst nicht? Wenn Nar eine Flasche Utana hervorholt, dann erwartet er, daß die Person auch trinkt, du Marsmensch!" Das Glas wurde Kerac gegen die Lippen gepreßt. "Trink jetzt! Oder du kriegst das Glas zu fressen!"
Keracs Lippen preßten sich noch fester aufeinander. Sein ganzer Körper schüttelte sich vor Ekel.
"Trink!" schrie der Mann, den sie Brondar nannten. Nar war verärgert. Er holte mit dem Arm aus und schüttete Kerac den Schnaps ins Gesicht. Die Menge johlte Beifall. Nar stampfte zu seinem Utana-Faß.
Kerac versuchte, das Gesicht mit seinem Cape trockenzureiben.
"Aso", dröhnte Brondar, "wirst du jetzt spielen? Oder müssen wir ... "
Kerac riß sich zusammen. Ruhig zog er aus seinem Mantel die Flöte hervor. "Ich kann nur auf diesem Instrument spielen."
"Was?" ertönte es von allen Seiten. "Eine Röhre?"
"Ua! Ua!" schrien die anderen gegen Brondar an. "Laß ihn spielen! Wir wollen es hören!"
Brondar ließ ein gewaltiges Donnerwetter los. Schließlich jedoch setzte er sich an einen niedrigen Tisch und brüllte: "Spie!!"
Kerac spielte. Er spielte bis zur Erschöpfung. Wieder und wieder zwangen sie ihn, zu spielen. Einmal feuerte Brondar sogar eine Pistole gegen Keracs Füße ab, damit er zugleich tanzte und spielte.
Erst als die Morgendämmerung'sich im Osten zeigte, durfte er aufhören. Die rauchige Kneipe war fast leer. Oama-Kippen waren über den ganzen Boden verstreut. Die Jupitermenschen lagen in den Ecken zusammengekauert, schnarchend. Nar hing über seine Bartheke und Brondar, der immer noch munter war, hatte Schluckauf und fluchte gegen die wildbemalte Decke.
In dem Moment kam ein Schwarm Kam-Vögel von den Bergen hergeflogen. Sie überquerten die Stadt und schossen der aufgehenden Sonne entgegen. Sie sangen ihr Lied, hoch, süß und eindringlich. Fast unmittelbar darauf ertönte ein schwaches Gebrumme als Antwort.
Kerac fiel etwas ein, die erste schwache Möglichkeit für eine Lösung. Er lauschte. Seine Flöte fiel klirrend zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzuheben und betrachtete sie abwesend. Dann öffneten sich seine Augen weit. Er schaute zu Brondar hinüber, der sich unruhig bewegte und mit heiserer Stimme fragte:
"Was war'n das? Dieses Geräusch!"
"Die Vögel",murmelte Nar. "Die Kam-Vögel."
"Au!" Brondar schüttelte den schmerzenden Kopf. "Ich meine das andere Geräusch, das Andere."
"Marsbeben", antwortete Nar und kam schwächlich auf die Beine. "Schichten brechen in den Hügeln auseinander."
Kerac sprang auf, die Flöte in der Hand. In seinem Gehirn überstürzten sich die Einfälle. Diese idiotischen Jupitermenschen wußten nicht einmal, daß die Schwarze Rasse in den Bergen noch lebte!
Und die Kam-Vögel. Sie wurden Teil eines ungeheuren Plans, der in Kerac plötzlich entstanden war.
Brondar schwankte. Dann erhob er sich. Sein rot aufgedunsenes Gesicht war vor Schmerz verzogen.
"Oa. Wohin willst du, Marsmensch?"
Brondar versperrte den Weg zur Tür.
In letzter Verzweiflung ergriff Kerac einen leeren Utana-Krug und ließ ihn mit voller Kraft auf Brondars Schädel sausen.
Brondar war nicht länger ein Hindernis.
Die gemalten Schilder hatte man bei Nacht nicht sehen können, als Kerac das erstemal in diese Richtung gelaufen war. Alle hundert Meter hatte man sie aufgestellt. Die schwarzen Buchstaben glänzten in der Morgensonne.
ACHTUNG!
MARSBEBEN
BODENBEWEGUNGEN
In kleinerer Schrift stand darunter: ,.Jeder Angestellte der Jupiter-Minengesellschaft, der hier angetroffen wird, kann mit seiner sofortigen Entlassung rechnen."
Kerac stand eine ganze Weile davor. Die Sonne wärmte seinen hochgewachsenen Körper. Die Hügel waren nicht weit weg, rosig überglänzt von den frühen Sonnenstrahlen. Der Strom glitzerte wie Millionen blitzender Messerschneiden. Kerac versuchte, das Puzzle aus den Verbotsschildern und der Dummheit der Stadtbewohner zusammenzusetzen.
Die Schwarze Rasse hatte unberührt in den Bergen überlebt. Die Jupiter-Arbeiter nannten das Geräusch, das von den Bergen kam, "Marsbeben".Es gab nur eine einzige denkbare Erklärung. Große Schürfarbeiten wurden im Süden vorangetrieben. Die südlichen Berge waren schon von allen Angehörigen der Schwarzen Rasse geräumt. Die nördlicheren Gebiete würden auch bald folgen, sobald die Jupitermenschen mit den Vorbereitungen für die Ausgrabungen fertig wären.
Die offiziellen Stellen hatten entschieden, daß bis zu jenem Zeitpunkt das Vorhandensein der Schwarzen Rasse geheimgehalten würde. Was der einfache Arbeiter nicht wußte, konnte ihm auch keine Sorgen bereiten. Wenn die Arbeiter dagegen von der drohenden Gefahr wüßten, hätten viele sofort mit der Arbeit aufgehört. Sie waren nämlich ein abergläubisches Völkchen, diese Jupitermenschen.
Die Schwarze Rasse war jedoch keine wirkliche Gefahr. Sie hatten nicht genug Verstand, um sich zu organisieren und anzugreifen. Sie töteten sich eher gegenseitig. Sogar ein intelligenter Mann wie Kerac würde sie nicht zu einem organisierten Angriff führen können. Die Jupiter-Regierung wußte das ganz genau. Sonst hätte sie Kerac nie erlaubt zurückzukehren.
Kerac setzte seinen Weg in der mörderischen Hitze fort.
Auf der Spitze des Berges war es kühler. Von seinem Platz aus konnte er beide Städte überblicken die alte und die moderne Stadt. Vom Süden her kamen Geräusche von den Ausgrabungen in den Gelben Bergen.
Er wartete geduldig, bis die Kam-Vögel über die Höhlen hinwegflogen. Ihnen folgte ein "Marsbeben" als Antwort.
Als die Vögel verschwunden waren, nahm Kerac mit zuversichtlichem Lächeln die Flöte an die Lippen und spielte die gleichen Töne, die die Vögel gesungen hatten - zehn Töne, kurz und klagend. Ihnen folgten sechs lange harmonische Akkorde, und danach tiefere und eindringlichere Töne. Es klang wie ein auffordernder Ruf. Wieder und wieder spielte er die Melodie.
Die Berge nahmen den Gesang der Flöte auf. Doch nur so zart wie der letzte sichtbare Stern in der Dämmerung.
Die Schwarze Rasse antwortete und ließ die Erde erzittern. Kerac wußte jedoch, daß sie nicht auftauchen würden, solange die ihnen verhaßte Sonne schien.
Sie hörten sein Lied und wurden dadurch erregt. Dies stimmte ihn zuversichtlich. Er würde immer wieder auf die Kam-Vögel lauschen und versuchen, sich ihre Melodie zu eigen zu machen. Seine Interpretation müßte noch ausdrucksvoller und drängender werden. Und dann, wenn die Nacht herein brach ...
Im beginnenden Zwielicht stieg Kerac wieder zum Fuß des Berges hinunter. Er spielte seine Musik und übertrug sie dem leichten Wind, der an den schiefergrauen Felswänden zu den Löchern hinabwehte, wo die Kreaturen zusammengekauert hockten und zu ihm emporstarrten.
Die Musik, die sie hörten, bezwang sie. Sie kamen in Knäueln herausgestolpert, ihre feuchten Füße tapp-
ten über die Steine. Sie gestikulierten schwerfällig und stießen urweltliche Laute aus.
Kerac lief ein Stück weiter, um eine andere Position einzunehmen. Die Wesen kamen langsam hinter ihm her, wie hypnotisiert von der Melodie, die der Windhauch über die engen Gänge die Klippen hinuntertrug.
"Kommt, meine Brüder", rief Kerac wild. "Kommt! Tötet die Jupitermenschen!" Er spielte eine höllische
Musik. Sie stieg bis zu den Sternen hinauf und ließ sie in ihren Kreisbahnen wanken.
Kerac stieg vorsichtig die Berghänge immer weiter hinunter. Die aufgewühlte Horde folgte seiner Musik. Doch plötzlich kam ein starker Windstoß aus der Richtung der Jupiter-Stadt, der andere Musik mit sich brachte: Jupiter-Musik, jener wahnsinnige Krach, der den Ohren weh tat.
Er verschlang Keracs zartes Lied, hieb wie mit Hämmern auf die Schwarzen Geschöpfe ein und ließ sie wimmernd zurück in ihre Höhlen fliehen, zurück in die Dunkelheit der Unterwelt.
Kerac verstummte besiegt. Über ihn dröhnte die scheußliche Jupiter-Musik hinweg und schien ihm die Luft zu nehmen. Die Musik, die von den Lautsprechertürmen ausgesandt wurde, bemächtigte sich des Ostwinds, löste Echos aus und verlangte gebieterisch Aufmerksamkeit. Verlangte sie und errang sie auch. Kerac steckte die Flöte weg. Sein schmales Gesicht war gezeichnet von der Niederlage. Die letzte Hoffnung, sein Plan war zunichte gemacht durch den Ostwind und durch die Musik vom Jupiter.
Er stand eine Weile bewegungslos. Der Wind spielte mit seinem Umhang und wehte Staub in sein Gesicht.
Der Wind.
Der Wind!
Kerac machte eine rasche Bewegung. Ihm war eine neue Idee gekommen. Er sprang die Felsen hinunter, stemmte sich gegen den Wind und kehrte zum letztenmal in die Jupiter-Stadt zurück.
Kerac eilte durch enge Straßen und grübelte dabei über seinen Plan nach. Durch eine direkte, unmittelbare Aktion konnte nichts gelöst werden. Er mußte vorsichtig und psychologisch geschickt vorgehen. Dann würde er so lange keinen Verdacht erregen, bis es für die anderen zu spät war.
Ein schwerfälliges, zwanzigrädriges Erzfahrzeug kam neben ihm zum Halt. Ein bulliges "Jupiter-Gebirge" schob sich heraus und brüllte: "Heda, Marsmensch."
Es war Brondar, der von der Arbeit in den südlichen Bergen zurückkehrte. Er lächelte.
Sein gewaltiger Arm schoß nach vorne und packte Kerac bei seinem Umhang. "Ich habe dich seit heute morgen, als du weggerannt bist, gesucht. Ich brauche dich und deine Flöte. Komm!"
Er schritt davon und zerrte Kerac hinter sich die verwinkelte Gasse entlang.
"Laß mich los!" forderte Kerac ärgerlich. "Ich bin ein Schützling der Regierung."
"Schützling?" Ein schnaubendes Lachen legte das blutunterlaufene Gesicht in tausend Fältchen. "Regierung? Hier gibt's keine Regierung. Geh weiter!"
Und er stieß Kerac vor sich her durch die dämmerigen Sträßchen.
"Wir werden miteinander Geld machen, Marsmensch", sagte er. "Nachdem du heute morgen weggerannt bist, kam der Programmleiter der Musikstationen in die Utana-Kneipe. Ich habe ihm von deiner Musik erzählt. Er ist sehr daran interessiert. Er hält genau nach jemandem wie dir Ausschau. Jetzt habe ich dich wieder aufgegabelt und ich werde eine gute Belohnung dafür verlangen, daß ich dich und deine Flöte entdeckt habe. Hier herum!"
Kerac wurde um eine Ecke auf einen Platz geschubst, in dessen Mitte ein gelbliches Gebäude stand, das die Riesenaufschrift "Audio" in krakeligen Jupiter-Buchstaben quer über das Dach trug.
Sie stiegen Treppen hinauf und traten durch eine Tür. Um einen Tisch herum saßen sechs Jupitermensehen, die über etwas diskutierten. Vor jedem von ihnen stand eine Utana-Flasche, in jedem blaulippigen Mund steckte eine Oama-Zigarette. Häßliche Gesichter wandten sich Kerac zu. Er stellte auf Grund der Abzeichen an ihren aufgeblähten Uniformen fest, daß hier die höchsten Beamten der lokalen Regierung versammelt waren. Sie gehörten zu denen, die für die Zerstörung des Mars mitverantwortlich waren.
Der Mann am Kopfende der Tafel sprang auf.
"Brondar", sagte er scharf, "du unterbrichst eine Konferenz. Was ist los?"
Brondar schob Kerac weiter in den Raum hinein. Er winkte mit einer großen Pratze der Versammlung zu und sagte: "Er ist nicht entflohen, Grannd. Er wird, wie ich es dir versprochen habe, Musik für dich machen. Und du wirst mich gut dafür bezahlen, daß ich ihn gefunden habe."
Grannd, ein kleiner Jupitermensch, ging rasch zu Kerac und examinierte ihn gründlich von Kopf bis Fuß.
"Du bist also der Marsmensch." Es war eine reine Feststellung. "Ich habe von dir gehört, als du im Exil auf dem Jupiter warst. Dort hast du getan, was dir paßte. Hier, wo es nicht so viele Gesetze gibt, sondern viele ungeschriebene Regeln, wirst du tun, was uns paßt. Man sagt, du seist gut. Ich, Grannd, werde das Urteil fällen. Spiele!"
Kerac schaute Grannd an. Er wußte, daß er der Leiter der Programmstation war, von der aus alle Lautsprecheranlagen bespielt wurden. Wenn er es nun geschickt anstellte, dann würden die Jupitermenschen zu ihrem eigenen Untergang Beihilfe leisten.
Die nächsten Minuten würden die Entscheidung bringen. Die nächste Stunde würde über Erfolg oder Mißerfolg seines Plans entscheiden. Er fühlte sich etwas ängstlich, weil seine große Chance so überraschend schnell gekommen war.
Kerac setzte sich. Er machte den Eindruck, als ob er abgestumpft sei. Dann hob er die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.
Die Musik war so süß und traurig, daß der Oama-Rauch aufhörte, durch die Luft zu ziehen, und in der Luft erstarrte.
Die. Jupiter-Beamten, die schlitzäugig über ihrer Utana-Flasche hingen und Oama-Zigaretten rauchten, fanden sich wie in einen Schraubstock gespannt. Diese Musik war reine Hypnose. Jeder Ton, der das Ohr erreichte, erhöhte den Wunsch nach mehr. Es war der melancholische Gesang der Kam-Vögel, trauriger und getragener als er je gehört worden war.
Als Kerac fertig war, spielte er sein Lied noch einmal, weil die Stille, die folgte, unerträglich für die Nerven war. Er spielte diesmal ein wenig schneller. Der Raum war von Schweigen erfüllt. Sogar Brondar war beeindruckt und sagte nichts.
Als Kerac das zweite Lied beendet hatte, wurde nicht applaudiert. Es gibt wunderbare Dinge im Universum, die man nicht mit Lärm, sondern mit einem anbetungsvollen Schweigen ehrt. Es wäre genauso unmöglich, mitten in einer Kirchenmesse "bravo" zu rufen oder in die Hände zu klatschen, wenn man einen Spiralnebel zu Gesicht bekommt.
Das Schweigen hielt an.
Brondar rutschte unbehaglich herum. Es schien, als hätte er zum erstenmal in seinem Leben Schönheit bewundert und als fühlte er jetzt deswegen Reue. Schließlich fluchte er und zündete sich eine Oama-Zigarette an.
Die fünf hohen Beamten erwachten aus ihrer Trance,murmelten vor sich hin, rauchten und nahmen tiefe Züge aus ihren Utana-Flaschen.
Auch Grannd schlürfte Utana. Er dachte nach.
Dann schaute er die anderen an. Sie nickten. Er wandte sich zu Kerac.
"Du wirst es noch einmal spielen, damit ich eine Bandaufnahme davon machen kann."
Kerac unterdrückte ein zufriedenes Lächeln.
Grannd sprach weiter: "Es war sehr gut. Du solltest dich geschmeichelt fühlen, daß ich, Grannd, dich gelobt habe." Seine Redeweise war so kurz wie sein Körper. Der Mann strahlte Selbstgefälligkeit aus. Er erwartete offensichtlich unverzüglichen Dank.
Kerac gab vor, in Gedanken versunken zu sein. Er ließ sich absichtlich Zeit. Es sollte nicht so aussehen, als wäre er erpicht darauf, zu kooperieren.
"Ich weiß nicht so recht", sagte er langsam. "Ich habe es bisher nie zugelassen, daß eine Aufnahme gemacht wird."
Grannds Augen funkelten böse. "Aber jetzt wirst Du es tun. Für mich. Jetzt sofort."
"Warum?"
"Warum?" Grannd blies die blauen Backen auf.
"Ich, Grannd, werde deine Musik Jupiter übermitteln.
Außerdem werde ich deine Melodien über Lautsprecher auf dem ganzen Mars ausstrahlen lassen. Vielleicht auch auf der Erde. Du wirst eine Symphonie komponieren. Es wird sich lohnen." Seine Stimme war hart. "Komm, wir werden Testaufnahmen machen. Wenn sie zufriedenstellend sind, unterzeichnen wir einen Kontrakt."
Grannd ging zu der Tür, die in einen schalldichten Raum führte. Er erwartete, daß Kerac ihm folgte. Kerac blieb sitzen.
Brondar mußte Gewalt anwenden.
Kerac stand vor einer Reihe komplizierter Tongeräte.
Grannd fluchte über einen Wirrwarr von Instrumenten im Aufnahmeraum. Die Jupiter-Beamten saßen in einer verglasten Kabine und beobachteten alles. Brondar, der auf viel Geld hoffte, war auch noch da.
Eine dünne Tonspule wurde eingelegt. Grannd schaute hoch. "Wenn ich das Signal gebe, fängst du an zu spielen. Bist du bereit? Ruhe, bitte."
Eine Pause. Dann kam das Signal.
Kerac spielte, wie er nie zuvor in seinem Leben gespielt hatte. Er spielte die Melodie zuerst langsam. Mit jedem weiteren Mal wurde er schneller, noch schneller, höher und schriller. Er wiederholte es achtmal.
Und jedes Mal war es eindringlicher als das vergangene. Beim achtenmal schwang unhörbar eine Aufforderung mit.
"Gut!" Grannd schaltete die Bandübertragung aus. "Du bist sehr talentiert. Das wird uns viel Geld einbringen."
Kerac wirkte amüsiert. "Was finden Sie an meiner Musik denn so interessant?"
"Interessant?" Der Tonmeister klopfte sich auf die Brust. "Deine Musik bewirkt hier etwas - hier drinnen."
"Wird sie den anderen denn auch gefallen? Den Arbeitern?"
"Du hast doch gesehen, was sie bei den Leuten angerichtet hat, die Utana trinken und Oama rauchen. Wenn sogar sie die Musik mögen, dann wird sie jedem gefallen."
"Ich bin da nich t so sicher."
Grannd sagte verärgert: "Ich werde es dir beweisen." Er nahm die Tonspule heraus, setzte sie in einen anderen Apparat ein, und sagte: "Wir haben in jeder Straße der Stadt Lautsprecher."
"Ja. Sie sind mir schon verschiedentlich aufgefallen."
"Ich werde jetzt deine Musik sofort über diese Lautsprecher ausstrahlen lassen. Dadurch werde ich dir beweisen, daß du bei den Arbeitern, überhaupt bei jedermann ankommst."
"Und vergiß nicht", warf Brondar ein, "daß ich ihn entdeckt habe."
Grannd drückte auf eine Taste; die Tonbandspule drehte sich. "Wenn du willst", sagte er zu Kerac, "kannst du auf die Straße gehen und deine Musik über die Lautsprecher hören."
Kerac nickte zustimmend und eilte zur Tür, gefolgt von Brondar. Draußen, in der kühlen Nachtluft, hielt er lächelnd an. Er drehte sich zu Brondar um. "Wollen wir in die Utana -Kneipe gehen und dort zuhören?"
Kerac fühlte, wie der Wind seinen Umhang aufblähte. "Gut, sehr gut", sagte er, als sie zusammen durch die Straßen gingen. "Heute nacht weht ein starker Ostwind."
In dieser Nacht klang die Musik verändert, als sie aus den Lautsprechern dröhnte. Es war zwar die gleiche Musik, die Kerac leise in den Hügeln gespielt hatte, doch nun war sie ungeheuer verstärkt. Sie drang aus der Jupiter-Stadt, wurde vom Wind erfaßt und über die Hügel getrieben wie ein Schwarm Heuschrecken. Dort senkte sie sich wie ein gewaltiger aus Hypnose gewebter Vorhang auf die Höhlen hinab.
Innerhalb von fünf Minuten waren die Pfade, die Gänge, die Hügel und die Bergspitzen eine einzige wimmelnde, kriechende Masse aus amöbenartigen Wesen, die einer gewaltigen Woge gleich, sich ins Tal wälzte. Sie überquerte den Strom, schwappte über die Highways, magisch angezogen von der Musik.
Nicht nur die Schwarze Rasse stand unter Bann. Jeder Jupiter-Bewohner war wie erstarrt und lauschte der außerordentlich schönen Musik.
Das "Marsbeben" schob sich mit zunehmendem Getöse über die Hügel. Die Musik wurde immer schriller und immer schneller. Sie machte wahnsinnig und sandte eine elektrisierende Welle nach der anderen durch die Luft.
Kerac stand nahe dem Hinterausgang der Utana-Kneipe. Brondar war neben ihm. Das "Marsbeben" hörte auf, als die Schwarze Rasse sich näherte. Irgendein Instinkt befahl ihnen still zu sein.
Die ganze Stadt schien unbelebt bis auf das plötzliche eilige Schurren, das durch die fremdartigen Wesen am Rande der Stadt verursacht wurde.
Kerac wartete. Er war bereit, im nächsten Moment zu flüchten.
Nar, der Besitzer der Kneipe, war gerade damit beschäftigt, eine Flasche Utana abzufüllen. Er lauschte dabei wie in Trance auf die Musik und das eigenartige Geräusch von den Bergen. "Marsbeben", grunzte er.
Die Tür flog auf. Auf der Türschwelle tauchten dunkle, formlose Gebilde mit grünen Augen auf. Es gab einen Moment des ungläubigen Entsetzens. Diesen Moment benützte Kerac, um geräuschlos zur Hintertür hinauszuschlüpfen.
Nar schaute von der Flasche auf. Seine blaue Stirn furchte sich. "Oa!" schrie er wütend. "Was ist denn das?".
Tische wurden umgeworfen. Sechs blaue Hände griffen nach den Pistolen. Zwei Männer kippten besinnungslos um. Zwanzig Flaschen krachten auf den Boden, wo sie verrückte Kreise beschrieben und Utana verströmten. Brondar zog die Elektro-Pistole und feuerte.
Die Schwarzen Geschöpfe schwankten den Kugeln entgegen. Kugeln richteten nichts aus in schwarzem Fleisch. Die Elektro-Pistolen waren nutzlos. Die Geschöpfe schwankten unverletzt vorwärts. Sie starben fast vor Hunger.
Sie nahmen sich, was sie brauchten.
Kerac rannte in eine Seitenstraße. Dort blieb er stehen und schnappte nach Luft. Niedergekauert, schwer atmend und schwitzend fühlte er dennoch, wie eine große Ruhe über ihn kam. Die Erregung war wie weggeblasen. Auch die Furcht war verflogen. Er fühlte sich fast trunken vor Macht. Als nächstes würde er in die anderen Jupiter-Städte gehen, die in den weiten, blauen Tiefen der Hügel auf der anderen Seite vom Mars lagen.
Mit einem Windhauch drangen Schreie durch die kühle Luft. Gebrüll stieg überall aus der Stadt auf. Schüsse krachten. Tausende. Gedämpfte Schritte tappten durch die kleine Straße neben ihm. An die Wand gepreßt, erkannte Kerac, daß der Fluchtweg abgeschnitten war. Eigenartigerweise verspürte er keinerlei Furcht. Er hatte seine Aufgabe vollendet. Niemand konnte die Schwarze Rasse jetzt noch aufhalten. Sie würden auch ohne ihn weitermachen.
Jupiterbewohner stolperten wimmernd an ihm vorüber. Sie trafen auf eine Masse, die sich die Straße hinunter wälzte. Sie hielten ein Stück unterhalb der Stelle an, wo Kerac kauerte. Dort wurden sie umfangen, zermalmt, zum Schweigen gebracht durch eine Gruppe der Schwarzen Wesen.
Kerac lehnte sich zurück und hob die Flöte an die Lippen.
In seinen Augen glänzte Triumph.
Das Leben starb in dem "Stadtpolypen". Die Tentakel zuckten nur noch schwächlich, die riesigen gelben Augen wurden blasser, schwacher, verlöschten schließlich und ließen alles im Dunkel zurück.
Kerac spielte weiter, bis er die schwarzen Körper um sich spürte, die dicken hungrigen Finger, die nach seiner Flöte griffen, nach seinem Mantel, nach seiner Kehle ...
DER FLÖTENSPIELER von Ray Bradbury
1And I'll spread my wings 'till sun and moon, singing the song of life, dancing the dance of life, becoming life itself, no longer knowing, that I am.