LSD - Long slow distance (Joggen)

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Liebe Community,

in den vergangenen Monaten sah ich eine besondere Form des Bewusstseins im Fokus meiner Aufmerksamkeit. Es ist ein Zustand, der während und vor allem in Folge von sehr langen, langsamen Läufen entsteht. Für mich erhält damit ein Allerwelts-Hobby, das zunächst nur verfolgt wurde, um körperliche Fitness zu gewährleisten, eine versteckte Faszination; eine ungemein starke Motivation und einen positiven Hype, der dem Leben eine neue Perspektive zu geben vermag.

Nachdem ich etwa 2 Jahre in der Regel ein- bis maximal zweimal die Woche joggen ging und nie über die gewohnten 10 km hinaus kam, trainierte ich irgendwann, um einem anschaulichen Ziel entgegen blicken zu können, auf einen Halbmarathon hin. Und bereits die ersten Male, während ich mich alleine in der Natur befindend, mit meiner Lieblingsmusik im Ohr, die Strecken ausdehnte, erlebte ich jenen paradoxen und außergewöhnlichen Zustand.

Nach einem gleichmäßigen Lauf über eine Stunde, in der ich einen andauernden Kampf zwischen zunehmender Erschöpfung und reiner Willenskraft führte, in der mich ständig das Gefühl plagte, mehr Energie zu verlieren als aufbringen zu können, stellt sich spontan und gänzlich unerwartet eine körperliche und geistige Veränderung ein: ich spüre, dass der Lauf an Leichtigkeit gewinnt und ich nur so von Energie durchströmt werde, die sich zuvor scheinbar gut in mir zu verstecken wusste. In diesem Moment wird alles intensiver, fließender: die Rythmen der Musik durchströmen meinen Körper, diktieren im Takt meiner Schritte, meiner Bewegungen. Ich werde deutlich schneller, ohne nur einen Hauch von Erschöpfung zu spüren. Mein Bewusstsein, welches zuvor noch auf meinen Körper, das Durchhalten und Überwinden, fixiert war, wird in dieser Phase von allen belastenden Gedanken und Wahrnehmungen gereinigt. Ich achte auf die Musik, fühle, wie sie in mich greift, wie sie mich führt; erlebe aber gleichzeitig eine zauberhafte Wahrnehmung für meine Umgebung: der Fluss, die Bäume, der blaue Himmel hinter den Wolken, die Ruhe und Idylle und inmitten dieses Paradieses laufe ich. In diesem Zustand erlebe ich eine sehr angenehme Gänsehaut auf meinem Kopf und sofern ich die Augen schließe, habe ich manchmal das Gefühl, mich in Zeitlupe fortzubewegen - die Welt zieht dann schwebend an mir vorbei.
Mir ist dabei aufgefallen, dass es - eine gewisse Entfernung bereits hinter mir liegend - sehr stark von der jeweiligen Musik und der momentanen Umgebung abhängt. Beispielsweise höre ich gerne ein Album, dessen Highlight - das letzte Stück - nach etwa einer Stunde beginnt und dann ca. 18 Minuten dauert. Dieses Stück vermag es nicht selten, den von mir beschriebenen Zustand auszulösen. Schon die ersten Töne reichen oftmals, um mich in die Stimmung zu versetzen, die sich zusammen mit dem Stück unaufhaltsam fortentwickelt. Aber auch sehr schöne Ortschaften (z. B. unter einer gigantischen Brücke durchzulaufen) können mit dazu beitragen.
Interessant ist vor allen, dass sich nicht nur subjektiv eine Leichtigkeit einstellt, die mehr einer Sinnestäuschung gleichkäme; auch objektiv werde ich deutlich schneller. In dieser Phase kann ich meine Durchschnittsgeschwindigkeit um ca. 2 km/h steigert (also von ca. 9 km/h auf 11 km/h), was meines Erachtens enorm viel ist. Leider endet das Hochgefühl fast ebenso schnell, wie es gekommen ist, nach meistens 10-20 Minuten.

Mir ist es nahezu unbegreiflich, welch mächtiges Gefühl da in uns wohnt und welche Energien unser Körper in Ausnahmesituationen unwillkürlich bereitzustellen vermag. Dieses unglaublich intensive Gefühl, das wohl auch als Runner´s high bezeichnet wird, ist seit jeher ein ständiger Begleiter meiner Jogging-Touren und darüber hinaus eine starke Motivationsquelle. Hervorgerufen wird es wohl durch einen Sauerstoffmangel im Gehirn, der über eine längere Zeit aufrecht erhalten. Der Körper scheint in dem Moment Endorphine auszuschütten, die einem von jedem körperlichen Unbehagen befreit. Aber wie bei wohl allen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, ist jede Ursachenforschung und Beschreibung, jede wissentliche Erklärung, nichtig im Gegensatz zur reinen Energie des Erlebens.

Jedoch nicht alleine das kurze Vergnügen des Runner´s High entlohnt für diese lang anhaltenden und phasenweise sehr kräftezehrenden Lauf. In letzter Zeit nehme ich vor allem auch das Gefühl unmittelbar nach dem Lauf sehr bewusst wahr. Je nach der Länge der Strecke spüre ich unmittelbar nach dem Ankommen erst einmal eine geballte Erschöpfung, verbunden mit einem Gefühl der Zufriedenheit, diesen Weg geschafft zu haben. Doch schon kurz danach, sobald der Körper sich einigermaßen von der Anstrengung erholt hat, beginnt die Psyche neu zu erwachen. In ihr herrscht eine allumfassende Freiheit, ein unermessliches Glücksgefühl; die Welt wurde von allen Negationen, die man gewöhnlich in sie hinein interpretiert, gereinigt. Es existieren weder Zukunft noch Vergangenheit. Alles um einen herum strahlt Ruhe und Harmonie aus. Meistens mache ich mir in dieser Phase ein besonderes Musikstück an und empfinde den Moment, mit all der in ihm ruhenden Kraft, mit vollem Bewusstsein - und die letzten Schritte nach Hause können gar nicht lange genug andauern...

Hat jemand von Euch denn schon mal ähnliche Gefühle beim Laufen erlebt?
Ich finde, das Thema passt recht gut in diese Rubrik. :)

Beste Grüße,
Yagé
Die Realität ist Spiegelbild der Seele; wird nun das Innere verzerrt, so verschieben sich auch die Wesenszüge der Wirklichkeit.

Re: LSD - Long slow distance (Joggen)

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Interessant ist vor allen, dass sich nicht nur subjektiv eine Leichtigkeit einstellt, die mehr einer Sinnestäuschung gleichkäme; auch objektiv werde ich deutlich schneller. In dieser Phase kann ich meine Durchschnittsgeschwindigkeit um ca. 2 km/h steigert (also von ca. 9 km/h auf 11 km/h), was meines Erachtens enorm viel ist. Leider endet das Hochgefühl fast ebenso schnell, wie es gekommen ist, nach meistens 10-20 Minuten
bin mal durch die stadt gelaufen, da seh ich ein weißes blatt_papier an der häuserwand kleben...

drauf stand:

"Wem gehört die stadt?
SCHNELLER!
"



ka obs n traum war, happ keinen realitycheck gemacht... :nixplan:

Re: LSD - Long slow distance (Joggen)

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Toller Bericht. Konnte mich hineinversetzen. :)
Hat jemand von Euch denn schon mal ähnliche Gefühle beim Laufen erlebt?
Ja. :flucht: :rocker:
Yagé hat geschrieben:Dieses unglaublich intensive Gefühl, das wohl auch als Runner´s high bezeichnet wird, ist seit jeher ein ständiger Begleiter meiner Jogging-Touren und darüber hinaus eine starke Motivationsquelle. Hervorgerufen wird es wohl durch einen Sauerstoffmangel im Gehirn, der über eine längere Zeit aufrecht erhalten. Der Körper scheint in dem Moment Endorphine auszuschütten, die einem von jedem körperlichen Unbehagen befreit. Aber wie bei wohl allen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, ist jede Ursachenforschung und Beschreibung, jede wissentliche Erklärung, nichtig im Gegensatz zur reinen Energie des Erlebens.
Um dann doch wieder auf die wissenschaftliche Erklärung zurückzukommen. :blacklol:
Ohne dir jetzt eine Alternativerklärung bieten zu können bezweifle ich dass diese Hochstimmung durch einen cerebralen Sauerstoffmangel hervorgerufen wird. Du bist bei langsamen Läufen auch nach langer zurückgelegter Strecke trotzdem noch im aeroben Bereich. Das heißt dein Organismus verbraucht nur so viel Energie, dass der Sauerstoff, der zur Oxidation der Stoffwechselprodukte notwendig ist in ausreichendem Maße über die Atmung nachgeliefert wird. Wieso sollte dann ausgerechnet im so wichtigen Gehirn es an Sauerstoff mangeln ? Ich hab dieses Jahr ein Seminar über Ausdauertraining und frag mal nach ob es da ernst zunehmende Studien zu den Ursachen gibt.

Ach jetzt ist mir grad noch was eingefallen, was auch zu deinen 10-20 MInuten passen würde. Als ich mal mit der Mfg gefahren bin saß neben mir am Steuer ein Mann, so um die 50, der, wie sich nach einer Weile palavern herausgestellt hat schon zig Marathons gelaufen ist, zudem Iron-Mans, Hundertkilometerläufe und mittlerweile immer ein halbes Jahr fast ganz pausiert und dann zur Saison anfängt zu trainieren und nach einer kurzen Trainingsphase nur noch(!) Marathons läuft und ausschließlich diese als Training benutzt. Jedenfalls den hab ich nämlich auch bezüglich des Runners-high gefragt weil ich mir gedacht habe: Wenn einer Erfahrung damit haben muss dann der und er meinte dass das seiner Meinung nach darauf zurückzuführen sei, dass der Körper so nach ca. ner dreiviertel Stunde bis Stunde Laufen vom Kohlehydratabbau auf den Fettstoffwechsel umschalte und dass man dass erstmal als belastend und anstrengend erlebt und dann wenn der Schalter sozusagen umgelegt ist erfährt man eine starke Erleichterung, die der Körper dann mit einem Hochgefühl quittiert. Das sei seine rationale Erklärung für den Mythos Runnnershigh. Ich war aber etwas skeptisch und später hat er sich dann auch widersprochen. Als wir über den 100 Kilometerlauf sprachen meinte er: "Ja und am Ende schüttet der Körper so viele Drogen aus, dass man es irgendwie übersteht und nach dem Ziel bricht man dann total zusammen" ^^

Es bleibt spannend. :strubbel:
Take pain as a game.

Re: LSD - Long slow distance (Joggen)

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Schöner Bericht. :bow:

Zu Maos Beitrag fällt mir ein, was ich gestern gelesen habe...
SPON hat geschrieben: Sigrid Eichner hat mehr als 1800 Ultra- und Marathonläufe absolviert. Die 73-jährige Berlinerin ist damit Weltrekordlerin. Im August geht sie beim 100MeilenBerlin an den Start. Trotz der zahlreichen Verletzungen denkt sie noch lange nicht ans Aufhören.
http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaeh ... 69450.html
~~ courage ~ compassion ~ connection ~~
~~ ~~ ~~ ~~ vulnerability ~~ ~~ ~~ ~~

~~ ~~ ~~ ~~ Γνῶθι σεαυτόν ~~ ~~ ~~ ~~

Re: LSD - Long slow distance (Joggen)

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Ehrlich gesagt dachte ich mir zu Anfang etwas ähnliches.
Aber der Fettstoffwechsel scheint von Anfang an aktiviert zu sein - je nachdem wie langsam man läuft und wie viel Sauerstoff man für sein momentanes Tempo verbraucht. Je schneller man läuft, desto mehr muss der Körper auf die schnell verfügbaren Kohlehydrate zurückgreifen. An das Fett kommt er mühseliger, sodass er daraus weniger Energie zur Verfügung stellen kann; aber er tut es immerzu. Dieser Moment des Wechsels, wie ich ihn auch zunächst vermutet habe, scheint also so direkt nicht zu existieren.
Eine Strecke über 10 km im anaeroben Bereich kann wesentlich anstrengender sein und mich eher an meine Grenze bringen, als ein 30 km andauernder sehr langsamer Lauf. Wobei es tatsächlich einen Punkt gibt, an dem die Kohlehydratspeicher aufgebraucht sind (nach ca. 20 km) und spätestens dann muss man zumindest geringfügig Energie zuführen (am besten über konzentrierte Kohlehydrat-Gels). Mit diesen Kohlehydraten muss der Körper dann wirtschaften, denn auch für die Fettverbrennung braucht der Körper Kohlehydrate ("das Fett verbrennt nur im Feuer der Kohlehydrate", heißt es oft). Das funkioniert aber recht gut. Aber einen Zusammenhang zwischen Runners High und fehlenden Energien habe ich noch nie festgestellt.

Wenn die Sauerstofftheorie auch wegfällt, ist wieder alles offen.
Wie Du schon sagst: es bleibt spannend!
Die Realität ist Spiegelbild der Seele; wird nun das Innere verzerrt, so verschieben sich auch die Wesenszüge der Wirklichkeit.

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