Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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Vor allem die Medizinforschung steht vor neuen Herausforderungen. In ersten Umrissen wird erkennbar: Körper und Seele, deren Gesundheit, Krankheit, Entwicklung und Alterung unterliegen einem genetischen Wechselspiel, dessen Komplexität alle bisherigen Vorstellungen übersteigt. Die Genetiker müssen sich von ihrem Bild eines stabilen Genoms verabschieden, in dem Veränderungen krankhafte Ausnahmen sind. Das Erbgut eines jeden ist in beständigem Umbau begriffen. Die Folge: Jeder Organismus, jeder Mensch, selbst jede Körperzelle ist ein genetisches Universum für sich.
Universum im Universum im Universum im Universum... ^^
[...]

Die jüngsten Ergebnisse zeigen mehr denn je, dass der Mensch ein Produkt genetischer Prozesse ist. Aber auch, dass diese Prozesse mit vielen Freiheitsgraden ausgestattet sind. Sie bilden ein offenes System, in dem keineswegs alles vorbestimmt ist.
Sehr sympathische Erkenntnisse. :herzen:
Davon ahnten nach der ersten Genomentschlüsselung nur wenige etwas. Wie ein Gen aussieht und funktioniert, welchen Funktionsprinzipien das Erbgut von Mensch oder Mikrobe folgt, glaubten die Fachleute verstanden zu haben. »Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist«, sagt Craig Venter, der mit seiner Firma Celera an dem Projekt beteiligt war. Erwartet hatte man eine Sammlung komplizierter, aber verständlicher Kochrezepte für die Lebensprozesse. Nun wird erkennbar: Das Buch des Lebens ist voll verrätselter Prosa.
Und auch hier ist es wie in fast jedem Bereich der Wissenschaft... und es wird komplexer und komplexer...
Es war nur der erste Höhepunkt des Umsturzes, als vor wenigen Monaten die Überzeugung von der genetischen Uniformität und also Identität der Menschheit zerbrach. Bis dahin galt die Annahme, dass sich das Erbgut zweier beliebiger Menschen nur in etwa einem Promille aller DNA-Bausteine unterscheidet. Doch die Differenzen im Erbgut der Menschen sind in Wahrheit so groß, dass die Wissenschaft nun bestätigt, was der kölsche Volksmund schon länger wusste: »Jeder Jeck ist anders.« Ganz anders!

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Die Feinanalysen der Gendaten lassen nun erkennen: Das Erbgut der Menschen ist ebenso vielgestaltig, wie sie an Körper und Psyche verschieden sind.

Anhand von Venters Erbgut war es erstmals möglich, die Unterschiede zu katalogisieren. Das Erbgut der menschlichen Körperzellen besteht je zur Hälfte aus einem vom Vater und einem von der Mutter ererbten Chromosomensatz. Die Forscher hatten damit gerechnet, dass die elterliche Mitgift Unterschiede aufweisen würde; dass es zahlreiche Austausche einzelner Buchstaben im Genom gibt (sogenannte SNPs – single nucleotide polymorphisms), ist seit Langem bekannt. Vom wahren Ausmaß der Differenzen aber waren sie überrascht: In nahezu jedem zweiten Gen des Forschers stießen sie auf Unterschiede zwischen den mütterlichen und väterlichen Genkopien. Bei der Gegenüberstellung detektierten die Experten zudem zuhauf sogenannte Indels:Millionenfach waren ganze Abschnitte in die Erbmoleküle neu eingebaut worden (Inversion) oder einfach verschwunden (Deletion). Andere hatten sich aus ihrer Umgebung gelöst und umgedreht wieder eingefügt.

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Unter der Wucht der Befunde zerbröselt nun die Idee, das Genom stelle eine naturwüchsige Konstante dar, einen fixierten Quellcode des Menschen. Der US-Genetiker Matthew Hahn verglich das Erbgut bereits mit einer Drehtür: »Ständig kommen Gene, andere gehen.«

Diese Erkenntnis liefert erstmals eine plausible Erklärung für die Verschiedenartigkeit der Menschen. Erst derart dynamische Prozesse können in ihrem Zusammenspiel so machtvoll auf psychische und körperliche Eigenschaften des Menschen durchschlagen. Denn diese werden nicht von einzelnen Genen, sondern von Netzwerken aus oft Hunderten von Erbanlagen gesteuert. Schon auf subtile Änderungen einzelner Gene reagieren diese Gensysteme oft hochsensibel. Vervielfältigen sich darin etwa Gene für Signalstoffe oder deren Empfängermoleküle, verändern sich die Kommunikationssysteme des Organismus. Die Kopiermechanik im Erbgut dürfte daher für körperliche Besonderheiten des Individuums verantwortlich sein, aber auch für komplexe Krankheiten wie Diabetes, Autoimmunleiden oder Herzerkrankungen.

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Die Medizin der Zukunft, prophezeit der Forscher, werde durch die Ergebnisse ultraschneller Genomsequenzierung und massiver Rechenleistung geprägt sein: »Wir müssen Hunderte, vielleicht Tausende Gene gleichzeitig im Blick haben, um Krankheiten zu verstehen.«

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Das Wechselspiel im Menschengenom vermag nicht nur die individuellen Eigenheiten des Einzelnen zu erklären, es produziert auch das genetische Sortiment, aus dem die Evolution den Menschen weiter formt. Das macht einen weiteren verstörenden Befund verständlich: Die Spezies Homo sapiens unterliegt offenbar einer Turboevolution. Hunderte Bereiche im Erbgut haben sich weit schneller gewandelt als bei anderen Primaten. Neue Untersuchungen kommen sogar zu dem Schluss, dass die Zivilisation seit Beginn der Jungsteinzeit die menschliche Evolution um das 100-Fache beschleunigt haben muss.
Auch das finde ich außerordentlich interessant!
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Zumindest physisch erscheint der Mensch nicht länger als Individuum, sondern als Verband egoistischer Zellkolonien. Bei bis zu zehn Prozent aller Erbanlagen – und vielleicht weit mehr – ist entweder nur die mütterliche oder die väterliche Variante aktiv. Dieses Muster, im Fachjargon »autosomale monoallelische Expression« genannt, wird bereits im Embryo festgelegt. Und dort trifft jede Zelle ihre eigene Entscheidung. »Wir glauben, dass dies geschieht, wenn sich der Embryo einnistet«, sagt der Genetiker Andrew Chess von der Harvard University. Die Folge: Der erwachsene Organismus gleicht einem Flickenteppich von Zellverbänden, deren genetische Netzwerke unterschiedlich gestrickt sind.

Ob einzelne Erbinformationen in diesen Genkaskaden von Vater oder Mutter stammen, hat entgegen der bisherigen Einschätzung drastische Auswirkungen. Ihr Informationsgehalt kann feine Unterschiede aufweisen, die aber in den hochkomplexen Netzen, die menschliche Eigenschaften steuern, profunde Konsequenzen haben. Aus dem Harvard-Labor von Andrew Chess stammt ein weiterer faszinierender Befund: Von monoallelischer Expression sind besonders häufig Gene betroffen, die im Verlauf der Menschwerdung einer beschleunigten Evolution unterlagen, und solche mit wichtiger Funktion im zentralen Nervensystem. Was das für die Arbeitsweise des Gehirns und die Konstruktion der Psyche bedeutet, ist derzeit nicht einmal im Ansatz abzuschätzen.

Passé ist seither der Glaube, zumindest der gesunde Organismus stelle ein harmonisches, mit sich selbst im Einklang arbeitendes System dar. Stattdessen zeichnen die Forschungsbefunde das Bild eines fragilen Puzzles aus biologisch disparaten Einheiten. Gesundheit wäre demnach ein instabiler Zustand, in dem die Egoismen der Mosaiksteine in Schach gehalten werden. In jedem Fall aber gilt: Selbst die biologische Identität des Individuums steht wohl zur Disposition. Was für viele erschreckend klingt, ist für den amerikanischen Genetiker Steven Henikoff eine begeisternde Vorstellung: »Ich mag die Idee, dass wir Mosaiken sind.«
Spannend! Wir sind also nicht nur psychisch fragmentiert... ^^
Im Kern bedroht ist damit auch die Arbeit jener Wissenschaftler, die den Einfluss der Umwelt auf das Werden des Menschen messen wollen. Seit Jahrzehnten versuchen sie beim Vergleich von ein- und zweieiigen Zwillingen, den Einfluss der Umwelt gegen das Diktat der Gene abzugrenzen. Dabei galten ihnen die Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingspaaren als Maß für den Umwelteinfluss auf die Eigenschaften des Menschen – schließlich seien die mit vollkommen identischen Genen ausgestattet. Deshalb müssten alle Unterschiede kulturell und nicht biologisch bedingt sein.

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Durch sogenannte epigenetische Prozesse können offenbar Stress oder Folter, Ernährungsmangel oder Liebesentzug bis in den Zellkern hinein wirken.
Was vielleicht auch ein Ansatz für viele "zivilisatotische" Krankheiten sein mag welche es in anderen Ländern (bis der westliche Lebensstil Einzug erhalten hat) nicht gab. Stress...
Angesichts der Flut dieser noch weithin mysteriösen Befunde ergeht es den Genforschern ganz ähnlich wie Kosmologen, die seit einigen Jahren nach der geheimnisvollen »dunklen Materie« im Universum forschen. Auch die Biowissenschaftler rätseln nun über the dark matter of the genome, die dunkle Materie des Erbguts.

Unser Genom legt nicht fest, was für ein Mensch aus ihm wächst

Finden könnten sie das dunkle Geheimnis in jenem Teil des Erbguts, den sie bisher als Müll abgetan haben, als »Junk-DNA«. Relevant waren für sie nur jene wenigen Prozent des Genoms, die als Gene herkömmlicher Definition die nötigen Informationen für den Aufbau der Eiweiße in den Zellen enthalten. Der Rest galt als evolutionärer Schrott. Allenfalls als stabilisierendes Element konnte man sich diesen Teil des Genoms vorstellen, gleichsam als verbindenden Kitt zwischen den eigentlich wichtigen Erbinformationen.

Nun aber zeigt sich: Es ist vor allem die dunkle DNA-Materie in den Chromosomen, in der sich viele der neu entdeckten Prozesse abspielen. Offenbar steckt der »Schrott« voller unbekannter Gene, bevölkert von Steuerungsmodulen. Vor allem die sogenannten microRNAs, eine bis vor Kurzem unbekannte Klasse von Erbinformationen, regeln eine Vielzahl von Entwicklungs- und Krankheitsprozessen.
Das finde ich auch sehr spannend. Diese sogenannte "Junk DNA" war mir schon immer suspekt. So etwas wäre doch auch zu verwunderlich in diesem unglaublich komplexen System...

Und eine wirklich schöne Allegorie bezüglich dunkler Materie. :)
Der Schluss aus all diesen neuen Erkenntnissen kann nur sein: Zwar sind die Eigenschaften eines Menschen in seinem Genom begründet, gleichwohl aber ist im offenen System des embryonalen Erbguts keineswegs determiniert, welcher Mensch einmal aus ihm wächst. Selbst wenn man einen bis ins letzte Molekül exakt duplizierten Embryo unter identischen Umständen im Mutterleib heranwachsen lassen könnte – »es käme dennoch ein anderer Mensch heraus«, versichert der Berliner Genetiker Nikolaus Rajewsky. Und das auch ohne einen Einfluss durch Erziehung und Kultur.
Außerordentlich interessant ist, der wissenschaftliche Ansatz, wie stark psychische Faktoren die aktuellen genetischen Informationen beeinflussen...

...und es passt über die Maßen gut in mein Bild über dieses Universium und den ganzen Rest. ;)

Der ganze Artikel ist unter: http://images.zeit.de/text/2008/25/M-Genetik" onclick="window.open(this.href);return false; zu finden.
happiness is the absence of resistance

Re: Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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Vielen Dank, sehr interessante Ansätze und Erkenntnisse.

Hab mich in letzter Zeit auch ein wenig mit Genetik beschäftigt nebenher.

Ins Auge gefallen ist mir zum Beleg für die Annahme, dass wir mit unseren Genen wechselseitig kommunizieren, ein Experiment, indem herausgefunden wurde, dass zB Nahrungsknappheit krankmachende DNS-Sektoren bei den Nachkommen inaktivierten, was natrülich auch Darwin total relativiert, und auf eine weitere Ebene der Informationsübermittlung hinweist, die sogenannte Epigenetik.

Im ZDF kam dazu mal ein Bericht.
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/ ... 232/500802" onclick="window.open(this.href);return false; & http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/ ... 232/500758" onclick="window.open(this.href);return false;

Gruß
Schuh
~ Resting in Peace ~

Re: Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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danke für den text! ist interessant sich wieder mit dem thema auseinanderzusetzen. dass die epigenetik eine große rolle spielt ist schon echt spannend. u.a. auch wahrscheinlich der grund wieso dolly so für die alterskrankheiten anfällig ist (ihre DNA ist aus der adulten zellen genommen und deswegen bereits methiliert (spezifisch markiert)).
und die tatsache dass wir bei der forschung noch total in kinderschuh stecken macht die sache noch spannender!
es war aber ganz neu war ist dass die menschliche evolution schneller verläuft als die von anderen organismen. da sollte man mal näher recherchieren - kann echt schlecht glauben. aber es wäre echt spannend wenn es stimmt! (ich weiß nicht ob sie auch bei anderen organismen mehrere individuen vergliechen haben?).

ich hab bis jetzt nur über die Pseudogene gelesen, die nur bei säugertieren auftreten (die (mehrfache) "nichtfunktionelle?" kopien eines normales gens, die durch ein enzym "reverse transkriptase" aus der RNA hervorgegengen waren). für mich war es auch irgendwie ein interessantes indiz dafür, dass es gerade bei uns (und anderen säugern) eine "rückwirkende" evolution möglich wäre, in der der informationsfluß in die andere richtung geht (so eine art bestätigung der Lamark'sche Theorie...). aber ich hab keine weitere info dazu gefunden.

überhaupt total spannend finde ich die tatsache, dass viele abschnitte unseren DNA ständig hin-und-her springen! (auch hauptursache für den "fleckenmuster" oder "fragmentierung"!). ob man sowas je entschlüßeln und in ein super-rechner stecken könnte? sehr fragwürdig!

die natur hat ein bisschen mehr zeit gehabt an der sache zu basteln als wir es haben. aber wenn es stimmt dass wir so schnell evolutionieren... :irre:

inwieweit das ganze die individuelle psyche beeinflußt - wird glaub ich auch niemand gewiss sagen können. bestimmt schon, aber was es uns zu sagen hat?... aber schon spannend, mal sehen was da noch bei weiterer forschung rauskommt :)
Every Passing Minute Is Another Chance To Turn It All Around

Re: Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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Und auch hier ist es wie in fast jedem Bereich der Wissenschaft... und es wird komplexer und komplexer...
Hehe ... und je tiefer man vordringt desto gigantischer wird die Menge ungelöster Fragen. Irgendwie paradox. :)

Ein guter freund von mir ist drauf und dran molekulare Medizin zu studieren und ich werde Freude haben diesem unübertreffbaren Überrationalist mit Hilfe dieses Artikels ein bisschen ins Weltbild zu funken. :) Er wirds wohl früher oder später eh erfahren. ^^

peace mao
Take pain as a game.

Re: Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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Ein guter freund von mir ist drauf und dran molekulare Medizin zu studieren und ich werde Freude haben diesem unübertreffbaren Überrationalist mit Hilfe dieses Artikels ein bisschen ins Weltbild zu funken. :) Er wirds wohl früher oder später eh erfahren. ^^
na ja, mit der wissenschafft kann man ja trotzdem sehr viel erreichen. auch wenn es sich schwieriger erweißt als man es sich gedacht hat :klug:
außerdem ist es einfach spannend die prozese zu erforschen, die die natur sich "ausgedacht" hat ;)
Every Passing Minute Is Another Chance To Turn It All Around

Re: Das Zeitalter einer relativistischen Genetik

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Auf jedenfall ein sehr interessanter artikel. Das das genom nicht statisch ist sondern ein dynamisches, offenes system, hatte ich irgendwie immer schon im urin. Was auch immer wieder toll ist: wenn die wissenschaft plötzlich neue erkenntnisse macht bzw beweise für etwas findet, was in anderen (grenz)wissenschaften, die nicht so recht beweisbar ist (in dem falle psychologie), schon als fakt angenommen wird. Oder auch in der philosophie. Ich als wissenschaftlich angehauchter westlicher mensch finde das dann sehr befridigend irgendwie, wenn dinge, die ich nur fühlte, plötzlich wissenschaftliche fakten werden.
Staunen über die Fülle möglicher Erfahrungen auf diesem wunderbaren Planeten in diesem einzigartigen Leben.

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