Dort war es, wo Rudy sie fand, acht Monate später; in jenem weiten und häßlichen Haus in einer Seitenstraße der Western Avenue in Los Angeles. Sie lebte mit ihnen, mit ihnen allen, nicht nur mit Jonah, sondern eben mit allen.
Es war November in Los Angeles, bald Sonnenuntergang, und es war selbst für den Herbst unerwartet kalt in dieser immer sonnennahen Stadt. Er kam auf dem Bürgersteig daher und hielt an vor dem Haus. Es war barbarisch häßlich, mit halbgeschnittenem Gras, und der eingerostete Rasenmäher stand inmitten einer unbeendeten Schwade. Geschnittenes Gras, wie eine demonstrierende Geste gegenüber den beleidigten Bewohnern der zwei Balkon-Apartmenthäuser, die auf beiden Seiten über das hingeduckte Gebäude hinausragten. (Aber wie seltsam ... die Apartmenthäuser waren höher, das alte Haus kauerte sich zwischen ihnen nieder, aber es schien sie zu beherrschen. Wie merkwürdig.)
Pappendeckel verschlossen die oberen Fenster.
Ein Kinderwagen lag umgeworfen auf dem Zugang.
Die Haustür schmückten Schnitzereien.
Dunkelheit schien schwer zu atmen.
Rudy verrutschte den Campingbeutel auf seiner Schulter etwas. Er fürchtete sich vor dem Haus. Er atmete ziemlich schwer, als er da so stand, und ein Angstgefühl, das er nie hätte beschreiben können, zog seine dicken Muskeln beiderseits der Schulterblätter zusammen. Er sah auf und lenkte seinen Blick in alle Richtungen des dunkelnden Himmels, als suchte er einen Ausweg, aber er konnte nur vorwärts gehen. Kristina war dort drinnen.
Ein anderes Mädchen öffnete die Tür.
Sie sah ihn wortlos an, ihr langes blondes Haar verdeckte halb ihr Gesicht, das aus einem Schleier von Clairol und Schmutz hervorlugte.
Als er das zweite Mal nach Kris fragte, leckte sie ihre Lip51pen in den Mundwinkeln, und ein Muskelzucken schnickte über ihre Wange. Rudy setzte den Kleidersack mit einem Bums auf den Boden. »Kris, bitte«, sagte er, jetzt drängender.
Das blonde Mädchen drehte sich um und verschwand in den düsteren Fluren des schrecklichen alten Hauses. Rudy stand im offenen Hauseingang, und plötzlich, als ob das blonde Mädchen eine Schranke dazu gebildet hatte, die mit ihrem Verschwinden gefallen war, traf es ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als ihn eine Welle von stechendem Geruch umbrandete. Es war Marihuana.
Er inhalierte impulsiv, und in seinem Kopf drehte sich alles. Er ging einen Schritt zurück in die letzten paar Sonnenstrahlen, die über das Balkon-Apartmenthaus herübergelangten, und dann war es vorbei, doch er war noch immer benommen und ging vorwärts, den Kleidersack hinter sich herziehend. Er erinnerte sich nicht, die Haustür geschlossen zu haben, aber als er etwas später danach schaute, war sie hinter ihm geschlossen.
Er fand Kris im dritten Stock, gegen die Wand einer dunklen Kammer gelehnt. Die linke Hand streichelte ein blaßrosa zerzaustes Kaninchen, die rechte am Mund, den kleinen Finger gekrümmt, Daumen und Ringfinger halb verborgen, als ob sie die 1etzten Wunder eines Joint einsauge. Die Kammer beherbergte eine grenzenlose Vielfalt von Gerüchen dreckigschweißige Socken, so stechend wie Hammelbraten, Wildlederjacken, auf denen der Regen zu Stockflecken eingetrocknet war, ein Mop, der sich in seinem Odeur von altem, zu Dreck verhärtetem Staub gefiel; all das eingemantelt in Tabaksrauch, dessen Geruch ihr schon lange anhing, keiner wußte, wie lange aber es stand ihr. So gut wie es ihr eben stehen konnte.
»Kris?«
Langsam nahm sie ihren Kopf hoch, und sie sah ihn. Einiges später kapierte sie und fixierte ihn, und sie begann zu weinen. »Geh weg.«
In der transparenten Stille des flüsternden Hauses, hinter und über ihm in der Dunkelheit, hörte Rudy das jähe Geräusch von Lederschwingen, die sekundenlang wütend schlugen, dann nichts.
Rudy kauerte neben ihr nieder, das Herz in seiner Brust war aufs Doppelte angewachsen. Er war verzweifelt bemüht, sie zu erreichen, mit ihr zu sprechen. »Kris ... bitte ... « Sie drehte ihren Kopf weg, und mit der Hand, die eben noch das Kaninchen gestreichelt hatte, schlug sie unbeholfen nach ihm, verfehlte ihn.
Für einen Augenblick konnte Rudy schwören, daß er ein Geräusch hörte, als ob jemand schwere Goldstücke zählte, irgendwo weiter weg zu seiner Rechten, am Ende eines Flurs im dritten Stock. Aber als er sich halb herumdrehte, durch die Tür hinaus sah und versuchte, sein Gehör darauf zu konzentrieren, da war da kein Geräusch.
Kris war dabei zu versuchen, noch weiter in die Kammer zurückzukriechen. Sie versuchte zu lächeln.
Er wandte sich um, auf Händen und Knien krauchte er hinter ihr her in die Kammer.
»Das Kaninchen«, sagte sie matt. »Du quetschst das Kaninchen.« Er sah hinunter, sein rechtes Knie lag auf dem mit weichem, glanzlosem Fell bewachsenen Kopf des rosa Kaninchens. Er zog es unter seinem Knie hervor und warf es in eine Ecke. Sie sah ihn verachtungsvoll an. »Du hast dich nicht geändert, Rudy. Geh weg.«
»Ich bin raus aus der Army, Kris«, sagte Rudy sanft. »Sie haben mich aus gesundheitlichen Gründen rausgelassen. Ich möchte, daß du zurückkommst, Kris, bitte.«
Sie wollte nicht zuhören, sondern zog sich vor ihm tief in die Kammer zurück und schloß ihre Augen. Er bewegte seine Lippen mehrere Male, geradeso als ob er versuchte, Worte, die er schon gesprochen hatte, zurückzurufen, aber es kam kein einziger Ton. Er zündete sich eine Zigarette an und saß in der offenen Tür der Kammer, rauchend und, darauf wartend, daß sie zu ihm zurückkäme. Er hatte acht Monate darauf gewartet, daß sie zu ihm zurückkäme, seitdem er eingezogen worden war und sie ihm geschrieben hatte, »Rudy, ich werde jetzt mit Jonah im >Haus<leben«.
Da war das Geräusch von etwas sehr Winzigem, das sich im endlosen schwarzen Schatten umhertrieb, da, wo die oberste Stufe der Treppe vom zweiten Stock auf die Flurebene mündete. Es gickelte wie ein trillerndes gläsernes Cembalo. Rudy wußte, daß es über ihn kicherte, aber er konnte in dieser Richtung keine Bewegung ausmachen.
Kris öffnete ihre Augen und glotzte ihn mit Widerwillen an. »Warum bist du hergekommen?«
»Weil wir bald heiraten wollten.«
»Mach dich weg von hier.«
»Ich liebe dich, Kris, bitte.«
Sie kickte mit dem Fuß nach ihm. Es tat nicht weh, aber es hätte sollen. Er entfernte sich langsam rücklings aus der Kammer.
Jonah war unten im Wohnzimmer. Das blonde Mädchen, das die Tür geöffnet hatte, versuchte, ihm seine Hosen auszuziehen. Er schüttelte fortwährend ablehnend den Kopf,. und versuchte, sie mit schwacher Hand abzuwehren. Der Plattenspieler unter den vorgefertigten Bücherregalen spielte Simon & Garfunkel, »The Big Bright Green Pleasure Machine«.
»Es schmilzt«, sagte Jonah sanft. »Es schmilzt«, und er zeigte auf den großen, halbblinden Spiegel über dem Kaminmantel. Der Kamin war vollgestopft mit unverbrannten Milchkartons aus Wachspapier, Zuckerstangenpapier, Zeitungen der Untergrundpresse und allem möglichen anderen Plunder. Der trübe Spiegel wirkte deprimierend. »Es schmilzt«, schrie Jonah plötzlich auf und hielt sich die Augen zu.
»Oh, Scheiße!« sagte das blonde Mädchen, ließ ihn zurückfallen und gab damit auf. Sie kam zu Rudy.
»Was fehlt ihm?« fragte Rudy.
»Er spinnt wieder mal. Gott, wie langweilig er doch sein kann.«
»Ja schon, aber was passiert da mit ihm?«
Sie zuckte die Achseln. »Er sieht sein Gesicht schmelzen, das ist, was er sagt.«
»Hat er Marihuana intus?«
Das blonde Mädchen betrachtete ihn mit plötzlichem Mißtrauen. »He, wer bist du?«
»Ich bin ein Freund von Kris.«
Das blonde Mädchen prüfte ihn noch einen Augenblick, dann ließ sie, ihre Schultern wieder vorfallen und ihre Haltung entspannte sich, sie akzeptierte ihn. »Ich dachte, du könntest gerade reingekommen sein, weißt du, vielleicht die Bullen, weißt du?«
An der Wand hinter ihr war ein Middle Earth Poster, über den sich ein langer gerader Streifen zog, innerhalb dessen die Farben verschossen waren; dort fiel jeden Morgen die Sonne auf das Plakat. Er sah sich unbehaglich um. Er wußte nicht, was er tun sollte.
»Es war vorgesehen, daß Kris und ich heiraten sollten, seit acht Monaten«, sagte er.
»Willst du ficken?« fragte das blonde Mädchen. »Wenn Jonah trippt, ist er ganz weg. Ich habe den ganzen Morgen und den ganzen Tag Coca-Cola getrunken, und jetzt bin ich richtig scharf.«
Eine neue Platte fiel auf den Teller, und Little Stevie Wonder blies kräftig seine Harmonica und begann zu singen »I Was Born To Love Her«.
»Ich war mit Kris verlobt«, sagte Rudy und fühlte sich traurig. »Wir wollten heiraten, wenn ich mit dem Wehrdienst fertig war. Aber sie entschloß sich, mit Jonah hierher zu kommen, und ich wollte sie nicht drängen. So habe ich acht Monate gewartet, aber jetzt bin ich mit der Army fertig.«
»Schön, willst du oder willst du nicht?«
Unter dem Speisezimmertisch. Sie legte sich ein Seidenkissen unter. Darauf stand: Souvenir of Niagara Falls, New York.
Als er in das Wohnzimmer zurückkam, saß Jonah aufrecht auf dem Sofa und las Hesses Magister Ludi.
»Jonah?« sagte Rudy. Jonah sah auf. Er brauchte eine Weile, um Rudy zu erkennen.
Als es ihm gelang, klopfte er neben sich auf das Sofa, und Rudy kam her und setzte sich nieder.
»He, Rudy, wo bist du gewesen?«
»Ich war in der Army.«
»Au.«
»Ja, es war scheußlich.«
»Bist du jetzt draußen? Ich meine, bist du das glücklich losgeworden? «
Rudy nickte. »Na ja. Aus Gesundheitsgründen.«
»Na also, das ist doch gut.«
Sie saßen für eine Weile still. Jonah begann zu nicken und sagte dann zu sich selbst: »Du bist nicht sehr müde.«
Rudy sagte: »Jonah, hör mal zu, was ist das für eine Geschichte mit Kris? Du weißt doch, wir wollten heiraten, schon seit ungefähr acht Monaten.«
»Sie ist hier irgendwo«, antwortete Jonah.
Aus der Küche, durch das Speisezimmer, wo das blonde Mädchen schlafend unter dem Tisch lag, kam das Geräusch von etwas Wildem, das an rohem Fleisch zu reißen schien.
Es ging so eine ganze Zeit lang, aber Rudy sah zum Fenster auf die Straße hinaus; es war ein großes Panoramafenster.
Da stand ein Mann in dunkelgrauem Anzug auf dem Bürgersteig an der Einmündung des Hauszugangs und sprach mit zwei Polizisten.
»Jonah, kann Kris jetzt mit mir von hier weggehen?«
Jonah schaute verärgert auf. »Hör mal zu, Mann, niemand hält sie hier fest. Sie versteht sich mit uns allen herrlich, und ihr gefällt es. Geh und frag sie doch selbst. Gott, bring mich nicht auf die Palme!«
Die beiden Cops kamen jetzt auf die Haustür zu.
Rudy stand auf und ging, um die Tür zu öffnen.
Sie lächelten ihn an, als sie seine Uniform sahen.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Rudy.
Der eine Cop sagte: »Wohnen Sie hier?«
»Ja«, sagte Rudy. »Mein Name ist Rudolph Boekel. Kann ich Ihnen helfen?«
»Wir würden gern reinkommen und mit Ihnen sprechen.«
»Haben Sie einen Haussuchungsbefehl?«
»Wir wollen nichts durchsuchen, wir wollen nur mit Ihnen sprechen. Sind Sie bei der Armee?«
»Grad entlassen. Ich bin heimgekommen, um meine Familie zu sehen.«
»Können wir reinkommen?«
»Nein, mein Herr.«
Der andere Cop schaute verärgert drein. »Ist das das Haus, das man >The Hill<nennt?«
»Wer?« fragte Rudy und sah verblüfft aus.
»Schön, die Nachbarn sagten, daß dies >The Hill< wäre, und daß hier einige ganz schöne wilde Parties abgezogen würden.«
»Hören Sie irgend etwas, was nach Party klingt?«
Die Cops sahen einander an. Rudy fügte hinzu: »Es ist immer sehr ruhig hier. Meine Mutter liegt im Sterben, sie hat Magenkrebs.«
Sie ließen Rudy sich einnisten, weil er in der Lage war, mit den Leuten zu sprechen, die von draußen an die Tür kamen. Außer Rudy, der ausging, um Essen einzukaufen, und abgesehen von den wöchentlichen Touren zur Arbeitslosenstelle, verließ keiner The Hill. Es war gewöhnlich sehr still.
Nur manchmal hörte man ein knurrendes Geräusch im hinteren Flur, der zu dem früheren Mädchenzimmer hinaufführte, und das Patschen aus dem Kellergeschoß, das Geräusch von nassem Zeug auf Ziegeln.
Es war ein in sich selbst ruhendes kleines Universum, im Norden von Acid und Meskalin begrenzt, im Süden von Pot und Peyote, im Osten von Speed und Redballs, im Westen von Downern und Amphetaminen. Es lebten elf Leute in The Hill. Elf und Rudy.
Er ging durch die Flure, und manchmal traf er Kris, die aber nicht mit ihm sprechen wollte, außer einmal, als sie ihn fragte, ob er jemals hinter etwas anderem als Liebe besonders hergewesen sei. Er wußte nicht, was er ihr antworten sollte, und sagte deshalb nur: »Bitte«, und sie nannte ihn einen Biedermann und ging weg in Richtung der Treppe, die zur Dachkammer führte.
Rudy hatte ein Quieken aus der Dachkammer gehört. Es war ihm vorgekommen wie das Kreischen von Mäusen, die in Stücke zerrissen werden. Katzen waren im Haus.
Er wußte nicht, warum er hier war, außer daß er nicht verstand, warum sie bleiben wollte. Sein Kopf brummte immerzu, und manchmal fühlte er, wenn er genau das richtige Wort fände, es auf die richtige Art sagen könnte, würde Kris mit ihm weggehen. Er begann eine Abneigung gegen das Licht zu entwickeln. Es tat seinen Augen weh.
Niemand sprach sehr viel zum anderen. Es war ein ständiger Kampf, high zu bleiben, die Gruppe so hoch in Stimmung zu halten wie möglich. In diesem Sinne sorgten sie füreinander.
Und Rudy wurde ihre einzige Verbindung nach draußen.
Er hatte einigen Leuten geschrieben seinen Eltern, einem Freund, einer Bank, noch irgend jemandem -, und so kam jetzt etwas Geld rein. Nicht viel, aber genug, um Essensvorräte zu halten und die Miete zu zahlen. Aber er bestand darauf, daß Kris nett zu ihm sein sollte.
Sie bearbeiteten sie alle, nett zu ihm zu sein, und sie schlief mit ihm in dem kleinen Zimmer im zweiten Stock, wo Rudy seine Zeitungen und seinen Kleidersack deponiert hatte. Die meiste Zeit am Tag lag er dort, wenn er nicht aus war zu Besorgungen für The Hill, und er las die kleineren Artikel über Zugunglücke und über Überfälle in den Vorstädten. Und Kris kam zu ihm, und sie liebten sich.
Eines Abends überredete sie ihn, daß er »es machen« solle, aber mit einer starken Portion Acid, und er ließ die zwei Zuckerwürfel auf der Zunge zergehen, und sie war langgezogen wie Sahnekaramelle auf sechs Meilen. Er selbst war ein dünner elektrisch geladener Kupferdraht, und er bohrte in ihr Fleisch. Sie zuckte von dem Strom, der durch ihn floß und wurde dann geschmeidiger. Er sank tiefer durch das Weiche und beobachtete aufmerksam den versponnenen Holzmaserungseffekt, den ihre Tränentropfen erzeugten, als sie in den Nebel um ihn herum aufstiegen.
Er trieb langsam hinab, sich drehend und wieder drehend, gehalten von einem Flüstern in Blau, das wie ein Spinnweb aus seinem Körper kam. Das Geräusch ihres Atmens in der feuchten, mit Kristallsäulen bestandenen Höhlung, die tiefer und tiefer sank, war das Geräusch der Wände selbst, und als er diese mit seinen warmen metallenen Fingerspitzen berührte, atmete sie tief ein, die Luft in seiner Umgebung aufwirbelnd; er sank weiter hinab, dabei langsam in einem Schleier moschusartiger Ungebundenheit sich wendend.
Ein beharrliches Klopfen war irgendwo unter ihm, er hatte Angst davor, während er hinabsank; irgend etwas, das bedroht schien zu zersplittern, jammerte feinstimmig. Panische Angst ergriff ihn, beutelte ihn, seine Kehle schnürte sich zu, er versuchte den Schleier zu greifen, aber der zerriß in seinen Händen, dann kam er ins Fallen, schneller jetzt, viel schneller, und er hatte Angst, Angst!
Veilchenblaue Explosionen überall um ihn herum und das Kreischen von irgend etwas, das ihn wollte, was ihn suchte und tief im Schlund eines Tieres .sich wand, das er nicht benennen konnte. Er hörte sie rufen, hörte sie jaulen und unter ihm aufschlagen, und ein fürchterlich vernichtendes Gefühl in ihm ...
Und dann herrschte Ruhe.
Das dauerte einen Moment lang.
Dann kam zarte Musik auf, die nichts als Entspannung forderte. So lagen sie da, aneinandergeschmiegt, in der Schwüle der kleinen Kammer, und sie schliefen stundenlang.
Danach ging Rudy selten hinaus ans Licht. Er besorgte die Einkäufe abends, trug dabei Sonnengläser. Er leerte die Mülleimer nachts, und er scheuerte den Hauseingang, und schnitt den Rasen mit einer Gartenschere, weil der Rasenmäher mit seinem Lärm die Bewohner der Balkonapartments verärgert haben würde, die sich so nicht weiter beschwerten, weil nur selten noch ein Geräusch von The Hill vernommen wurde.
Er stellte auf einmal fest, daß er einige der elf jungen Leute, die in The Hill wohnten, schon lange nicht mehr gesehen hatte. Aber die Geräusche über und unter ihm und rundherum im Haus wurden häufiger.
Rudys Kleider waren ihm jetzt zu weit. Er trug nur noch eine Unterhose. Seine Hände und Füße waren verschorft. Die Knöchel seiner Finger waren geschwollen, vom harten Aufschlagen, und sie waren ständig entzündlich blutig gerötet.
Sein Kopf brummte dauernd. Der dünne fortwährende Tabakgeruch war in die Holzwände und ins Gebälk eingezogen. Er las die ganze Zeit Zeitungen, alte Zeitungen, deren Artikel seinem Gedächtnis eingelagert waren. Er erinnerte sich an einen Job als Automechaniker, den er einst gehabt hatte, aber das schien sehr lange her zu sein. Als man den Strom für The Hill sperrte, störte Rudy das nicht, weil er die Dunkelheit vorzog. Aber er ging los, es den Elfen zu sagen.
Er konnte sie nicht finden.
Sie waren alle verschwunden. Sogar Kris, die eigentlich irgendwo hätte sein müssen.
Er hörte die wasserpatschenden Geräusche aus dem Keller und ging, mit beklommen verhaltenem Atem, hinunter in die Dunkelheit. Der Keller stand voll Wasser. Einer der elf, mit Namen Teddy, war da. Er war an der schleimigen oberen Wand des Kellergeschosses festgebunden, hing dicht an der Mauer, zitterte leicht und strahlte ein dünnes grünes Licht aus. Er ließ einen gummiartigen Arm ins Wasser hängen und ließ ihn dort baumeln und sacht in der gezeitenlosen Flut schwingen. Dann kam etwas in seine Reichweite, er machte eine schnappende Bewegung, und holte das in seinem gummiartig straffem Zugriff sich noch angstvoll windende Etwas herauf und schob es langsam die Wand empor zu einem dunklen, feuchten Fleck weiter oben, nahe den Rohren, die quer hinüber verliefen, und klatschte das Ding auf den dunkelblutigen Flecken, wo es fürchterlich aufquiekte, dann eingesogen wurde, ein lutschendes Ziehen, dann ein Geräusch des Hinunterschluckens.
Rudy ging zurück, die Treppen hinauf. Im ersten Stock fand er das blonde Mädchen, das Adriane hieß. Sie lag dünn und weiß wie ein Tischtuch hingestreckt auf dem Speisezimmertisch, während drei von den Andern ihre Zähne in sie schlugen, und durch ihre hohlen, scharfen Zähne sogen sie die gelbe Flüssigkeit aus den aufgeblähten Eiterbeulen, die ihre Brüste und ihr Gesäß gewesen waren. Ihre Gesichter waren sehr weiß, und ihre Augen flackerten wie rußende Feuer.
Auf der Treppe zum zweiten Stock wurde Rudy beinah umgeworfen, als etwas vorbeikam, was einst Viktor gewesen war, etwas, das auf stark gerippten Lederschwingen flog. Es trug eine Katze in den Klauen.
Er fand Kris in einer Dachkammer, wie sie in einer Ecke einen Schädel aufbrach und die feuchten Haarsträhnen eines Wesens aufsuckelte, das wie ein Cembalo zimpelte.
»Kris, wir müssen hier verschwinden«, sagte er zu ihr. Sie langte aus, berührte ihn, und ließ ihre langen, spitzen, dreckigen Fingernägel gegen ihn schnippen. Er klirrte wie ein Kristall.
Im Dachgebälk lag Jonah, zusammengekrümmt wie ein Wasserspeier, und schlief. Ein grüner Schimmer lag auf seinen Kinnbacken, und er hielt etwas Verfilztes in seinen Pranken.
»Kris, bitte«, sagte er drängend.
Sein Kopf brummte.
Seine Ohren juckten.
Kris suckelte den Rest der vollmundigen Delikatesse aus dem Schädel der stillen kleinen Kreatur und rubbelte den schlaffen Körper grundlos mit haarigen Händen. Sie setzte sich zurück auf ihr Hinterteil, und ihre lange, haarige Schnauze kam zum Vorschein.
Rudy hetzte davon.
Er machte Riesensätze, er scheuerte sich die Knöchel auf, als er um sein Leben rannte. Hinter sich hörte er Kris knurren. Er gelangte in den zweiten Stock, dann in den ersten, und versuchte den Lehnstuhl zum Kaminmantel zu erklimmen, so daß er sich im Spiegel sehen könnte, beschienen vom durch das verschmutzte Fenster einfallenden Mondlicht. Naomi war vor dem Fenster und schlappte mit der Zunge nach Fliegen.
Er kletterte verzweifelt angestrengt, wollte sich selbst sehen. Und als er vor dem Spiegel stand, sah er, daß er durchsichtig war, daß.da nichts in ihm war, daß sich seine Ohren zugespitzt und Haare auf den Spitzen hatten, seine Augen waren so riesig wie die eines Lemuren, die Lichtspiegelung tat ihm weh.
Dann hörte er das Knurren hinter und unter sich.
Das kleine Flaschenteufelchen drehte sich um, und der Werwolf stellte sich auf seine Hinterbeine und tatzelte ihn, bis er wie ein edler Kristall aufklang.
Und der Werwolf sagte mit sehr wenig Anteilnahme: »Warst du je hinter etwas anderem als Liebe her?«
»Bitte!« bettelte der kleine Glasteufel, gerade als ihn die große, haarige Tatze in eine Million in allen Regenbogenfarben glitzernder Partikel zerspringen ließ, die sich alle bewußt im engen, kleinen, abgeschlossenen Universum verströmten, das The Hill war, alle völlig geschrumpft umherschwirrend und wegprickelnd in eine Finsternis, die zwischen den stillen Holzwänden hervorzusickern begann ...
H. Ellison - Zerbrochen wie ein gläsernes Flaschenteufelchen
1And I'll spread my wings 'till sun and moon, singing the song of life, dancing the dance of life, becoming life itself, no longer knowing, that I am.