Die Angst der deutschen Mittelschicht - 6 lohnende Seiten

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Eine weit verbreitete Meinung lautet: Die Mittelschicht wird ausgequetscht. Das ist falsch. Viele Angestellte und Selbstständige schimpfen auf den Staat – dabei verwöhnt er sie, wo er kann. von Stefan Willeke

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Der Staat tut viel für seine Lehrer, Web-Designer und Handwerksmeister, und die verteidigen ihre Privilegien. Ein schlanker Staat kommt mit einer schlanken Mittelschicht aus, meint der Bremer Soziologe Steffen Mau, einer der profiliertesten deutschen Mittelschichtsforscher. Der deutsche Staat ist aber nicht schlank. Er ist wohlgenährt. Das Rentensystem hängt am Staat, das Gesundheitssystem, das Schul- und Hochschulsystem, das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der öffentliche Nah- und Fernverkehr, die Stadtwerke hängen an ihm und die Apparate mancher Großverbände. Der Staat ist auch ein Arbeitgeber. Er versorgt diejenigen bestens, die schon jetzt genug zum Leben haben. Das müsste Dankbarkeit erzeugen, zumindest Respekt, aber dies ist selten der Fall.

"Die Mittelschicht", sagt der Soziologe Mau, "will heute oft mehr Markt statt Staat. Sie entzieht dem System, das sie nach oben gebracht hat, die Geschäftsgrundlage. Dabei ist sie vom Staat weiterhin abhängig, erkennt das aber nicht mehr an." Manchmal sieht sie nicht einmal mehr, wie reich sie beschenkt wird.

Ein besonders maßloses Geschenk ist das Elterngeld, das bei denen üppig ausfällt, die es am wenigsten benötigen – den Gutverdienenden. Bis zu 1.800 Euro überweist der Staat pro Monat, wenn eine Mutter oder ein Vater Elternzeit nimmt oder wenn beide es tun. Das Geld fließt bis zu 14 Monate lang. Es ist Steuergeld, und deswegen trägt der Gebäudereiniger auch ein wenig zu dem Elterngeld bei, das die Abteilungsleiterin erhält, sobald sie in Elternzeit geht. Er zahlt dafür wie für die Bundeswehr, die Straßenlaternen und die Polizei. Ginge aber der Gebäudereiniger in Elternzeit, bekäme er viel weniger ausgezahlt als die Abteilungsleiterin, weil sich diese Unterstützung nach dem letzten Nettogehalt richtet. Den Höchstsatz bekommt nur, wer 2.770 Euro netto im Monat verdient – oder mehr. Der Gebäudereiniger wird vom Staat dafür bestraft, dass er wenig verdient.

Deshalb ist das Elterngeld auch eine politische Aussage. Die Kinder der Abteilungsleiterin sind dem Staat mehr wert als die Kinder des Gebäudereinigers. Das ist staatlich verordneter Klientelismus und bereits für sich genommen eine als Familienpolitik kaschierte Unverschämtheit, aber die Unverschämtheit lässt sich noch ins Sinnlose steigern. Denn die sinkenden Geburtenraten in Deutschland wurden durch das Elterngeld nicht gebremst, sie sinken weiter. Warum sollte sich die Abteilungsleiterin auch wegen der 1.800 Euro für ein Kind entscheiden? An Geld hat es ihr schon vorher nicht gemangelt.

Im Internet tauschen sich inzwischen Mütter und Väter aus, die mit dem Elterngeld Urlaubsreisen für sich und ihr Baby finanzieren. Die "Weltreise mit Kind" ist ein gefragtes Thema. Eine Journalistin hat ein ganzes Buch mit den Erlebnissen gefüllt, die sie während der Elternzeit auf Reisen sammelte. Es gibt die Reiseagentur "Reiß aus! family", ein Büro für Babyreisen in Bayern und die Internetseite kidsaway.de, die den Hinweis verbreitet: "Der Bezug von Elterngeld ist explizit nicht daran gekoppelt, dass man sich in Deutschland aufhalten muss." Nicht zu vergessen: "Mitteilung an die Rentenversicherung, bei wem von euch die Erziehungszeit für das Kind gutgeschrieben werden soll."

"Wir wollen unsere einjährige Elternzeit in Thailand verbringen", schreibt der User "Elfenherzchen" in einem Forum, "wir wollen in einem schönen Umfeld unser Baby bekommen und kennenlernen, eine bezahlbare Kinderbetreuung und Haushaltshilfe anstellen." Pandora3791 fragt sich: "Wenn ich im Ausland entbinde, kann ich vor Ort den Antrag auf Elterngeld stellen?" Foreignmother weiß, wie man Rückzahlungen von Elterngeld verhindert. Elfenherzchen hat von Vätern gehört, die während ihrer Elternzeit mit dem Wohnmobil quer durch Europa fuhren.

Eine junge Mutter schildert im Internet die Kinderliebe der Portugiesen, empfiehlt in Lissabon ein Café mit Spielecke. Eltern erkundigen sich nach Streichelzoos in Santiago de Chile, andere brauchen dringend "eine USA-Pause" und begnügen sich mit Europareisen, dank Elterngeld. "Letztlich ist es doch egal", notiert eine Bloggerin, "ob wir damit einen Kaffee to go in Bayreuth oder einen Mate-Tee in Buenos Aires bezahlen."

Im Bundeshaushalt wird jeder zweite Euro für soziale Zwecke ausgegeben, aber der geringste Teil davon landet in den unteren Schichten der Gesellschaft. Gut acht Prozent kommen bei der Grundsicherung für Arbeitslose und bei Sozialhilfeempfängern an. Das meiste fließt in den Bereich Gesundheit, in die Rente – und in die Familienförderung. Umverteilung, das muss in Deutschland keineswegs bedeuten, die Armen mit den Steuern der Reichen zu unterstützen. Umverteilung, das heißt auch, Geld innerhalb einer sozialen Schicht zirkulieren zu lassen. Der Soziologe Mau meint: "Man kann den deutschen Sozialstaat auch als Sicherungsprogramm der Mittelschichten betrachten."

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Über die Höhe der Kita-Gebühren entscheiden die Kommunen selbst. Zu den Gemeinden, die bundesweit die höchsten Kita-Gebühren verlangen, gehört die Stadt Marl im Ruhrgebiet. Zwölf Prozent Arbeitslosigkeit, leere Kassen. Der höchste Beitrag, den Eltern in Marl monatlich für ihr Kind zahlen, liegt bei 615 Euro, in der Krippe sind es sogar 914 Euro. Auch deswegen verlassen die Besserverdienenden die Stadt. Sie könnten zum Beispiel ins reiche Heilbronn ziehen, eine Stadt, die allein 373.000 Euro mit Hundesteuern einnimmt und als Paradies der Kinder gefeiert wird. Dort zahlt niemand etwas für einen Kita-Platz, nicht einen Cent.

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Die deutsche Mittelschicht ist gut darin, sich in einen Schmerz hineinzusteigern. Aber es ist schwierig, etwas zu finden, das die Leidenden von ihrer schlimmsten Krankheit überzeugen könnte, der Hypochondrie. Die Finanzwissenschaftlerin Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft hat ein Mittel entdeckt, das helfen könnte – ein Argument. Sie hat etwas getan, was noch niemand vor ihr getan hat: Sie hat der Mittelschicht die Rechnung aufgemacht.

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Quelle: http://www.zeit.de/2015/06/mittelschich ... mmen-staat
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Re: Die Angst der deutschen Mittelschicht - 6 lohnende Seiten

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Willeke ist es völlig entgangen, daß die genannten Leistungen des Staates in den vom Mittelschichtler abgedrückten Steuern mitenthalten sind, er also er eben nicht nur 167 Euro im Monat an das Finanzamt überweist, sondern das 10- bis 15fache, und erst wenn es zu einer Verrechnung kommt dieses mickrige Steuerplus herauskommt. So oberschlau muß man erstmal sein, um solcherlei primitivste Mathematik nicht zu kapieren. Der Schreiberling braucht sechs lange Seiten, um sich zum guten Schluß selbst zu widerlegen. Echt reife Leistung.
http://journalistenwatch.com/cms/abkassierte-kassierer/ :nick:
„Hupen Sie, wenn Sie bewaffnet sind!“ (R.A.W)

Re: Die Angst der deutschen Mittelschicht - 6 lohnende Seiten

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Der Wahrheit die Ehre: Er hat ja die Dame vom Institut der deutschen Wirtschaft rechnen lassen, um auf diesen Schnitt zu kommen; mitnichten hat er diese Summe selbst ausgerechnet.
Aber es hatte durchaus seinen Grund, weshalb ich genau diese Stelle nicht zitiert hatte; wie er bzw. vielmehr sie auf diese Summe kommt, war für mich nicht nachvollziehbar.^ ^ Und dennoch hebelt diese Schwäche die anderen Argumente IMO mitnichten aus. Er führt der Solidargemeinschaft, die sie mal war, vor Augen, was sie alles hat. N' bisschen Wertschätzung wäre manchmal auch nicht verkehrt.

Lachen musste ich bei der Stelle mit dem Ehegattensplitting, das ja besonderes Augenmerk erfährt in dem Artikel. Sein Fazit:
"Das Ehegattensplitting ist zu einem Running Gag der Sozialgeschichte geworden. Morgens geht die Sonne auf, abends geht sie unter, und das Ehegattensplitting bleibt. Sogar die Atomkraft war in Deutschland müheloser zu beseitigen."

:D
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