»Was tatst du, nachdem wir gesprungen waren?« fragte ich Nestor nach langem Schweigen.
»Unmittelbar nachdem ihr beide verschwunden wart«, sagte er, »waren meine Nerven so durcheinander, daß ich nicht mehr atmen konnte und ebenfalls - ich weiß nicht wie lange - ohnmächtig wurde. Mir kam es nur wie ein kurzer Moment vor. Als ich wieder zur Besinnung kam, schaute ich mich nach Genaro und dem Nagual um; sie waren verschwunden. Ich rannte auf dem Berg hin und her und schrie nach ihnen, bis ich heiser war. Dann wußte ich, ich war allein. Ich ging an den Rand der Klippe und suchte nach dem Zeichen, das die Erde gibt, wenn ein Krieger nicht wiederkehren wird, aber ich hatte es bereits versäumt. Da wußte ich, daß Genaro und der Nagual für immer gegangen waren. Jetzt erst wurde mir klar, daß sie sich, nachdem sie euch beiden Lebewohl gesagt hatten, an mich wandten, und während ihr zum Rand der Klippe ranntet, winkten sie mir Lebewohl. So ganz allein um diese Tageszeit, an diesem verlassenen Ort zu sein, das war mehr, als ich ertragen konnte. Ich hatte auf einen Schlag alle Freunde verloren, die ich auf Erden gehabt hatte. Ich setzte mich hin und weinte. Und da ich mich immer mehr fürchtete, fing ich an zu schreien, so laut ich konnte. Ich schrie aus vollen Lungen Genaros Namen. Inzwischen war es stockdunkel. Ich konnte keine Orientierungspunkte mehr ausmachen. Ich wußte, daß ich als Krieger mich nicht meinem Kummer überlassen durfte. Um mich zu beruhigen, fing ich an wie ein Koyote zu heulen, wie der Nagual es mich gelehrt hatte. Nachdem ich eine Weile geheult hatte, fühlte ich mich so viel besser, daß ich meine Traurigkeit vergaß. Ich vergaß, daß die Welt existierte. Je länger ich heulte, desto leichter fiel es mir, die Wärme und den Schutz dieser Erde zu spüren. Es mochten Stunden vergangen sein. Plötzlich fühlte ich in mir, hinterm Kehlkopf, einen Schlag und hörte Glockenklang in den Ohren. Da erinnerte ich mich an das, was der Nagual zu Eligio und Benigno gesagt hatte, bevor sie sprangen. Er sagte, daß dieses Gefühl in der Kehle sich einstellt, kurz bevor man bereit ist, das Tempo zu wechseln, und daß der Glockenklang ein Vehikel ist, das man benützen kann, um alles zu erreichen, was man will. Ich wollte jetzt ein Koyote sein. Ich schaute meine Arme an, die vor mir auf der Erde lagen. Sie hatten ihre Form verändert und sahen aus wie die Pfoten eines Koyoten. An meinen Armen und auf meiner Brust sah ich das Fell eines Koyoten. Ich war ein Koyote! Das machte mich so glücklich, daß ich weinen mußte, wie Koyoten vielleicht weinen. Ich spürte meine Koyotenzähne und meine lange spitze Schnauze und meine Zunge. Irgendwie wußte ich, daß ich gestorben war, aber das war mir gleich. Es war mir egal, ob ich mich in einen Koyoten verwandelt hatte oder gestorben oder noch lebendig war. Ich ging wie ein Koyote, auf vier Beinen, zum Rand des Abgrunds und sprang hinab. Sonst gab es für mich nichts mehr zu tun. Ich spürte, wie ich stürzte und wie mein Koyotenleib durch die Luft wirbelte. Dann war ich wieder ich selbst, hoch durch die Luft kreisend. Aber bevor ich am Boden aufschlug, wurde ich so leicht, daß ich gar nicht mehr stürzte, sondern schwebte. Die Luft strich durch mich hindurch. Ich war so leicht! Ich glaubte, mein Tod sei endlich in mich gekommen. Irgend etwas wühlte mein Inneres auf, und ich löste mich auf wie trockener Sand. Ich fühlte mich friedlich und vollkommen, so wie ich war. Aber irgendwie wußte ich, daß ich da war und doch nicht da war. Ich war nichts. Das ist alles, was ich darüber sagen kann. Und dann, ganz plötzlich, fügte das gleiche Etwas, das mich wie trockenen Sand aufgelöst hatte, mich wieder zusammen. Ich kehrte ins Leben zurück und fand mich in der Hütte eines alten mazatekischen Zauberers sitzen. Er nannte mir seinen Namen, Porfirio. Er sagte, er sei froh, mich zu sehen, und fing gleich an, mich bestimmte Dinge über Pflanzen zu lehren, die Genaro mich nicht gelehrt hatte. Dann nahm er mich mit an den Ort, wo die Pflanzen gemacht werden, und zeigte mir die Gestalt der Pfanzen, besonders die Zeichen an der Gestalt. Er sagte, ich brauchte nur auf diese Zeichen an den Pflanzen zu achten, dann könnte ich leicht feststellen, wozu sie gut seien, selbst wenn ich eine Pflanze noch nie gesehen hätte. Dann, als er sah, daß ich die Zeichen kannte, sagte er mir Lebewohl, lud mich aber ein, ihn wieder zu besuchen. In diesem Augenblick spürte ich einen starken Sog, und ich löste mich auf wie schon zuvor.
Ich wurde zu einer Million Teilchen. Dann zog es mich wieder zusammen, ich wurde ich selbst, um Porfirio zu besuchen. Immerhin hatte er mich ja eingeladen. Ich wußte, ich konnte überall hingehen, wo ich wollte, aber ich entschied mich für Porfirios Hütte, weil er so freundlich zu mir gewesen war und mich belehrt hatte. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, statt dessen irgendwelche entsetzlichen Dinge zu entdecken. Diesmal nahm Porfirio mich mit und zeigte mir die Gestalten der Tiere. Dort sah ich mein eigenes Nagualtier. Wir erkannten einander auf den ersten Blick. Porfirio war erfreut, so eine herzliche Freundschaft zu sehen. Ich sah auch Pablitos und dein Nagualtier, aber sie wollten nicht mit mir reden. Sie schienen traurig zu sein. Ich beharrte auch nicht weiter darauf, mit ihnen zu reden. Ich wußte ja nicht, wie es euch bei eurem Sprung ergangen war. Ich wußte, daß ich selbst tot war, aber mein Nagual sagte, ich sei nicht tot und auch ihr beide wärt am Leben. Ich fragte nach Eligio, und mein Nagual sagte, er sei für immer gegangen. Da erinnerte ich mich, daß ich, als ich Zeuge von Benignos und Eligios Sprung war, gehört hatte, wie der Nagual Benigno anwies, nicht nach bizarren Visionen oder Welten außerhalb seiner eigenen zu suchen. Der Nagual trug ihm auf, nur seine eigene Welt zu erkunden, denn damit würde er die ihm einzig zugängliche Form der Kraft finden. Besonders wies der Nagual die beiden an, ihre Teilchen so weit wie möglich explodieren zu lassen, um ihre Kraft wiederherzustellen. Genauso machte ich's bei mir selbst. Elfmal ging ich zwischen dem Tonal und dem Nagual hin und her. Aber jedesmal wurde ich von Porfirio empfangen, der mir weitere Belehrungen erteilte. Jedesmal wenn meine Kraft schwand, stellte ich sie im Nagual wieder her, bis ich sie auf einmal soweit wiederhergestellt hatte, daß ich auf diese Erde zurückkehrte.«
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»Dieses Leben, das wir jetzt haben, ist nur eine lange Vision. Erkennst du das nicht?«Nervöse Krämpfe schüttelten meinen Körper. »Ich selbst bin nicht über diese Welt hinausgegangen«, fuhr er fort, »aber ich weiß, wovon ich rede. Ich habe keine Schrecken erfahren wie du. Ich tat nicht mehr als zehnmal Porfirio besuchen. Wäre es nach mir gegangen, dann wäre ich für immer dort geblieben, aber mein elfter Sprung war so gewaltig, daß er meine Richtung änderte. Ich spürte, daß ich über Porfirios Hütte hinausgeschossen war, und statt vor seiner Tür, fand ich mich in der Stadt wieder, ganz nah beim Haus eines Freundes von mir. Das kam mir spaßig vor. Ich wußte, daß ich zwischen Tonal und Nagual hin und her reiste. Niemand hatte mir gesagt, ob es mit diesen Reisen eine besondre Bewandtnis hatte. Daher wurde ich neugierig und beschieß, meinen Freund zu besuchen. Ich fragte mich, ob ich ihn wirklich sehen würde. Ich kam vor sein Haus und klopfte an die Tür, wie ich es unzählige Male getan hatte. Seine Frau ließ mich ein, wie sie es immer getan hatte, und natürlich war auch mein Freund zu Hause. Ich erzählte ihm, ich sei wegen Geschäften in der Stadt, und er zahlte mir sogar etwas Geld zurück, das er mir schuldete. Ich steckte das Geld ein. Ich wußte, daß mein Freund und seine Frau und sein Haus und das Geld und die Stadt eine Vision waren, genau wie Porfirios Hütte. Ich wußte, daß eine Macht, über die ich nichts vermochte, mich jeden Moment wieder auflösen würde. So setzte ich mich hin und vertrieb mir mit meinem Freund die Zeit. Wir lachten und scherzten, und ich muß sagen, ich war wirklich lustig und unbeschwert und ausgelassen. Ich blieb ziemlich lange dort, in Erwartung des Schocks; da er nicht kam, beschieß ich aufzubrechen. Ich verabschiedete mich und dankte ihm für das Geld und für seine Freundschaft. Dann ging ich fort. Ich wollte mir noch die Stadt ansehen, bevor die Kraft mich hinwegführen würde. Die ganze Nacht wanderte ich umher. Ich ging Seite 289 zu den Bergen hinauf, die die Stadt überragten, und in dem Augenblick, als die Sonne aufging, traf mich wie Blitz und Donner eine Erkenntnis: ich war wieder in der Welt, und die Kraft, die mich auflösen wird, wollte mich verschonen und noch eine Weile bleiben lassen. Ich sollte noch einige Zeit meine Heimat und diese wundervolle Erde sehen. Welch eine Freude, Maestro! Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich nicht auch die Freundschaft Porfirios genossen hätte. Beide Visionen sind gleich, aber ich bevorzuge die Vision meiner Form und meiner Erde. Vielleicht ist das meine Art, mich gehenzulassen.«