essbare und belauschbare pflanzengötter

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von ulrich holbein...

Die erste entheogene Pflanze, der Baum der Erkenntnis, zeigte bereits ein seltsames Paradox: Einerseits musste die Frucht der Erkenntnis abgeweidet und verkonsumiert werden, um ihr entheogenes Potential herzugeben, andererseits spazierte zu jener Zeit der Herrgott, wenn der Abend kam, noch ganz wie ein Mensch im Garten Eden umher, war also nicht, um überhaupt zu erscheinen, angewiesen auf pflanzliche Vermittlung.

In vorirakischen, vorgnostischen, vorbiblischen, fast vorsumerischen Schöpfungsmythen verlief alles etwas anders als später dann bei Eva und Adam. Adams Vorfahr Adapa oder Adamu, statt die Frucht der Erkenntnis zu essen, fällte den ältesten Welt- und Lebensbaum von Babel, und unterbrach so die baumförmige Nabelschnur zwischen Himmel und Erde, Eden und Elysium – abgekoppelt von Gott. Laut anderer Textbruchstücke soll Adapa noch im Paradies Urmutter Chawwa, später auch Eva genannt, geschändet haben, was von Sexisten gern mit „vergewaltigt“ übersetzt wurde, von Umweltschützern lieber mit „verschandelt“. Jedenfalls wurde Adapa deshalb entweder rausgetrieben aus dem Vielstrom-Paradiesgarten, oder Fata Morgana selber blühte ab, auch Fata Maja genannt, samt Flora und Pomona. Ihr Standort erodierte fatal.

Später keimten scholastisch und rabulistisch florierende Zwiste auf, als was für eine Obstsorte ursprünglich die Frucht der Erkenntnis eigentlich wissenschaftlich festgelegt werden könne: Die christliche Ikonographie zeigte stets einen Apfelbaum – wie aber kann ein Apfelbaum Feigenblätter bzw. ein Feigenbaum Sündenäpfel produzieren? Im Koran wurde der Erkenntnisbaum zur Bananenpalme, und die Banane zu Mohammeds halbmondförmiger Lieblingsfrucht. Auf spätmittelalterlichen Mutter-Kind- bzw. Jungfrau-MariaJesuskind-Gemälden lag auf der Brüstung stets ein Apfel, der das neue ans alte Testament band, alsbald auf späteren Bildern seine religiöse Symbolik einbüßte oder losließ und dann nur noch als weltliche Birne dalag. Im „Lost Paradise“ des John Milton steht der Erkenntnisbaum wiederum als Feigenbaum da, doch nicht etwa als gemeine Feige, sondern als imposanter Banyanbaum, Ficus bengalensis, zu deutsch auch: Würgefeige, weil die Überfülle der Luftwurzeln sich zum Wald auswächst und hierbei den Mutterstamm erdrückt.

Heutige Pilzenthusiasten und Fliegenpilzfetischisten wie Clark Heinrich erkennen ihren Fliegenpilz nicht erst im gebrochenen Brot des Abendmahls und im brennenden Busch des Moses wieder, sondern überdies in der botanisch undefinierten, jedenfalls angeblich tödlichen, also giftigen Rauschfrucht der Erkenntnis. Und zudem in der Giftschlange; denn sowohl Pilzstiel wie Schlange häuten sich, und sowohl Jungpilz wie Apfel liegen rot und rund im Gras. In dieser allzu expansiv mykophilen Erklärung fallen dann wieder die Feigenblätter stillschweigend unter den Tisch.

Gestrafte, raubeinige Nachfahren Adapas und Adams schleppten sich durch Wüstenstaub, Waste Land. Sandsturmgeister und flimmernde Wüstendämonen à la Baal, Nehuschtan, Kamosch, Kakodaimon, Beelzebub, Jahwe, Hubal und Allah drangsalierten hartherzig mit Geboten und Strafen die Vorväter heutiger Israeli und Palästinenser. Die sich in verheimlichten Stunden zurücksehnten zum lichtfleckdurchrieselten Kindheitsgärtchen und grüngolden schimmernden Lebensbaum. Denn weitgehend wolkenlose, regenfreie Regionen gebaren brennende Mythologeme, wettergegerbt maskuline Gotteswut. Wolken- und nebelverhangene Regionen hingegen produzierten Religionen vom entfernten, unbekannten Gott, der nur blitzweise durch Wolkenwände bricht; sowie kontrastreichere Zweiteilung von vorübergehendem Jammertal und ewigem Licht. Wüste wuchs. In versprengt aufglimmenden, von Hitzedelirium grundierten Visionen, zwischen Siebrest und Kameldorn, träumten in schrumpfenden Oasen religiöse Begabungen à la Abraham, Jaakov, Henoch, Nimrod vom ungeschorenen Pflanzenparadies, oder von lichtumflossenen Himmelsleitern, zwecks Götterbaumrekonstruktion. An die Stelle lebendig himmelstürmerisch sich rankenden Weltbaums trat technizistisches Ersatzinstrumentarium, trockne Maurerkunst, Lehmziegel auf Lehmziegel, Stein auf Stein. Doch der Turm von Babel konnte den Baum von Babel nicht ersetzen. Vorchristliche Wolkenkratzer wuchsen ihrem Einsturz entgegen, wie Raketen ihrem Absturz. Und wie Wandervölker, just monotheistisch geworden, ihrem Rückfall in überwundenen Orgiasmus. Der lichtumspielte Baum der Erkenntnis wurde bei Moses zu einer echten entheogenen Pflanze, und zwar der ersten, die nicht mehr gegessen werden musste, um wirksam zu werden. Der unsichtbar gewordene Gott vermochte seine Stimme zwar ohne pflanzliche Vermittlung hören lassen, sein visuelles Erscheinungsbild aber hing bei Moses an einer vermittelnden oder dazwischengeschobenen Pflanze, keiner Bananenpalme, keinem Apfelbaum, sondern einer wüstengerecht vertrockneten, umso leichter entflammbaren Pflanze, des Namens rubus, zu deutsch: Busch, der in der Koberger Bibel 1483 unlogischerweise als starkstämmig brennender Wald dargestellt wurde, also praktisch mit Querbezug zum paradiesischen Banyanbaum. Was dann alle Lutherbibel-Illustratoren bis 1700 unbesehen übernahmen, obwohl im Text jeweils deutlich „Busch“ stand. Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei Moses‘ brennendem Rubus um eine selbstentzündliche Graspflanze oder Fraxinella (Dietamnus albus L.).

Zwischenfazit:

Ab mosaischer Kulturstufe brauchten entheogene Pflanzen nicht mehr unbedingt oral aufgenommen zu werden. Vielfach genügt es, einfach nur meditativ drunterzusitzen. Oben rauschte dann der Baum, unten lauschte der Mensch, dazwischen erschien irgendein Gott, außerhalb herbräischen Kulturkreises weniger ein solcher als vielmehr Baumseelen, die aufschrieen, sobald in relativ undatierten Urzeiten ein Mytho-Unhold wie Erysichthon die mesopotamische Vergewaltigung der Großen Mutter erneuerte und brachial ein steinaltes Baumheiligtum vernichtete. Statt Harz ließ die Eiche sogar Blut laufen, blutrotes Menschenblut.

Von der Holzklotzanbetung bis zur Kruzifixproduktion – keine Religionsgeschichte ohne Kahlschlag. Man verbrauchte und pflückte jede Pflanze, einerlei ob ausdrücklich entheogene oder solche, deren Göttlichkeit, statt über Schleimhaut o.ä., lediglich visuell rüberkam. Bald dampfte und darbte die Südhalbkugel als geologische Glatze, ausgeliefert Sonnenwind und Sonnenbrand. Nur die Nordhalbkugel lag noch äonenlang flächendeckend im Sumpfwald, viel zu dunkel, um sich in Holzaxtproduktion zu verausgaben. Alle Urwald-riesen ungekämmt ineinander verfilzt, unaufdröselbarer als manch ein methusalemischer Prophetenbart. Durch Löwenwald jagte ein Waldlöwenjäger und Welteschefäller, eine Art nordischer Erysichthon, und schoss ständig daneben, kam kaum durch, durch Unterholz, Strunkwerk, Wurzelchaos, unberührt von Sternlicht, Mondlicht, Sonnenlicht. Rübezahl und Rapunzel ließen ihre Bärte und Zöpfe unbeschnitten wachsen. Man sah vor lauter Wald weder Bäume noch Himmel. Bloß Baum- und Windgeister standen seelisch zur Verfügung, kein Lichtgott himmlischer Höhen in Sicht. Um an ein Quentlein frühe Metabotanik heranzukommen, musste grüne Finsternis aufgelichtet werden. Die Geburt des Holzfällers aus dem Geist der Gottsuche? Jawohl – Hinwärtsund Aufwärtsbewegungen der Lichtfleck-Alge Euglena, Schlafbewegungen bei Kompasspflanzen und Blumenuhren, Baumverrenkungen, alles ging physiologisch nahtlos über in vorkatholisches Händeringen in Richtung lichtvisionärer, vormals photosynthetisch inspirierter Himmelskönigin, in gnostische, gotische und anderweitige Gottessehnsucht, um sich später zu philosophischer Wahrheitssuche zu mäßigen, also z.B. zu Martin Heideggers Begriff der Lichtung. Geschmackssache, ob der Homo religiosis eher als Ausläufer aufrollbeweglich fingernder Ranken firmiert, also selbst in seinen höchsten Bestrebungen auf Pflanzen-Niveau verbleibt, oder ob man umgekehrt bereits bei der Pflanze religiöse Fähigkeit konstatieren möchte. Der Nachtfalter, der auf Sufi-Art ins Licht stürzt, variiert die Konstellation Pflanze/Licht = Mensch/Licht kaum. Sonnenbaden und Braunwerden in atheistischen Zeitaltern krebst als abgesunken säkulare Schwund- und Kümmerform archaischen/ägyptischen Sonnenkults herum.

Bevor Frühgotik anfing, fand Pflanzengotik statt, und dies sogar wortwörtlich noch innerhalb von Vorgotik und Urgotik. Die frühesten Kathedralen, deren Spitzbögen und Bündelsäulen aus den Formbildungsgesetzen lebender Bäume hervorwuchsen, gebaut von irischen Mönchen und Rutenbauern, aus Eschenstämmen und Weidenstecklingen, basierten auf der Mudhif-Bündelkunst frühirakischer Sumpf- und Schilfbauern. Dann aber wurden die Weidenkirchen zu Kompost. Grüne Gotik ging in graue Gotik über, in versteinerte Kreuzrippenkuppeln, Rankwerke, Kriechblumen, quasi in verfrühte Betonbauweise. Immer noch im Wahn, Stein um Stein Gott näher zu kommen, alter unausrottbarer Babel-Komplex. Andere Holzverbraucher, statt lichtdurstig in grüner Finsternis den Himmel zu schauen, wollten einfach nur Melkschemel und Holzeimer herstellen. Beide Sorten Mensch, Baumfreund wie Baumfrevler, vom Höhlenbewohner bis zum Zeitungsleser, brauchten unentwegt Holz, für Pfeil und Bogen, Räder, Ochsenkarren, Wikingerschiffe, trojanische Pferde, Armbrüste, Brennholz, Pfahlbauten, Holzhütten, Fachwerkhäuser – keine Welt- und Kulturgeschichte ohne Entwaldung. Ganze Wälder legten sich flach, widerspruchslos.

Ein Abglanz von Buddhas Baum-Erleuchtung fiel sogar auf weltliche Vorgänge: Auch jener uralte Banyanbaum, unter dem fünftausend Krieger Alexanders des Großen Platz fanden, fing plötzlich zu raunen und übermenschliche Weisheit auszuspenden an, warf nämlich dem Feldherrn Eroberungslust vor und prophezeite sein baldiges Ende.

Nochmal kurz zurück zu Adam und Eva: Kaum hatten sie ihre Blöße mit je einem Feigenblatt gedeckt, saß 6000 km entfernt Buddha, nachdem er, wildwuchernden Überlieferungen zufolge, bereits in vierunddreißig früheren Inkarnationen als Baumgeist gelebt hatte, unter einem Feigenbaum, unterm Bo-Baum, auch Bodhibaum genannt, Ficus religiosis, einem überaus entheogenen Pippalbaum, und träumte vom Rosenapfelbäumchen seiner Kindheit im Lumbini-Hain. Und die biblisch-altorientalische Paradiesschlange kam als Kobrakönigin Muktalinda, einer Abgesandten der Großen Mutter Maja bzw. Fata Morgana, zu ihm und reichte ihm die Frucht der Erkenntnis, die auch gern mit Erleuchtung übersetzt wurde, auch wenn Feigen keine ausgesprochen psychoaktiven Spezialeffekte gebären, sondern bloß gut schmecken. Und ohne, dass etliche Generationen sich um die genaue botanische Bestimmung der Frucht stritten. Und ohne mythisches Drumrum aus Fressneid, wahnhafte Sündenbockzuweisung, und ohne, dass Buddha vertrieben und bestraft im Schweiße seines Angesichts fortan für seine Erleuchtung zu büßen hatte. So oder so: Flüsternde Baumgottheiten hatten sowohl indischen Buddhas wie Indienbesetzern etwas zu sagen, sowohl Welteroberern wie Nirwanabesetzern. Nach dem Urbild archaischer Asketen, die kraft Meditation wimmelnde Götterwelten einfach fortmeditierten, räumte auch Erleuchtungskönig Buddha, kurz: Erlkönig, mit wimmelnden Wahnbildern und konstruierten Göttern ziemlich auf, insofern Rationalist und Aufklärer, hinter dem dann bald der Wildwuchs göttlichen Pandämoniums erneut zusammenschlug, wie niedergetrampeltes Gras wieder aufsteht, geköpfte Weiden wieder ausschlagen.

Holzfäller und Baumseele, Jäger und Sammlerin, Asphaltpflanze und Lotophagin, diese Grundstruktur schimmerte überall durch. Die einen holzten ab, die andern gossen Blümchen. Die einen traten, wie Vorsokratiker Empedokles pythagoräisch, schier weiblich, für Seelenwanderung ein, auch bei Pflanzen, die Empedokles passender weise für vernunftbegabt hielt, 450 v.Chr., und sogar er selbst war bereits Strauch, Fisch usw. gewesen.

Die anderen hingegen, die Abholzer, unterteilten sich in praktische Aufräumer und in theoretische Holzfäller, nämlich in Widerleger vorangegangener Naturphilosophien, wie Empedokles‘ Zeitgenossen Diogenes von Apollonia, den René Descartes oder noch schlimmer: den Julien Offray de La Mettrie der Antike, der als Spielverderber und Aufklärer auftrat und den Pflanzen das Denken absprach. Wie unspendabel! Wie unverzeihlich! In solch kaltherzig reduktionistischen, realitätslastigen Theoremen röhrte von Anfang an die sowieso unaufhaltsame – Baumsäge.

Und schon verunglimpfte ein gelernter Holzfacharbeiter aus Bethlehem einen allzu weiblichen Feigenbaum. Ein Affront gegen die herz- bzw. feigenblattförmige Yoni der Großen Mutter Maja. Aggressive Magie contra florale Sensibilität. Unbegabt, Geschenke zu genießen. So unerleuchtet wie möglich. Jesus als mutierter oder auch sublimierter Erysichthon, aber ohne dessen arg männlich verschwitzte Achselhöhlen, und ohne Axt – Jesus als magischer Schreibtischtäter. Jesus‘ römischer Zeitgenosse Publius Ovidius Naso verewigte Erysichthons Untat, und Evangelist Markus verewigte Jesus‘ Feigenbaumverfluchung! Die unschuldige Pflanze, getroffen von des Heilands Fluch, verdorrte umgehend. Nicht ohne Rückstoßprinzip und Spätfolgen: Der Verflucher musste dasselbe Schicksal erleiden, durstig, lebendig an totes Holz gehängt, praktisch an einen verdorrten Baum. Fernab indischen Bodhi-Baums, starb Jesus am indianischen Marterpfahl. Statt mit Fata Morganas Blumenschmuck – mit Dornenkrone.

In Kürze

Die Sandwüste, Staubwüste und Steinwüste der abgeschorenen, abgegrasten, abgefrühstückten Nordhalbkugel hatte es eilig, auf Bauerwartungsland, Betonwüste und Kulturwüste hinauszulaufen, so verfrüht wie möglich. Flächenfraß im öffentlichen Interesse. Härte gegen alles Weiche. Germanen und Christen fällten um die Wette Bäume. Zweitausend Jahre, bevor der Terminus „Naturbeherrschung“ aufkeimte. Historicus Tacitus zeigte sich schockiert von verödeten Landstrichen in Germanien. Zimmermann Jesus mutierte zur Möbelindustrie.

In verstreuten Oasen hielt sich ein letzter grüner Hauch ehemaliger Total-Paradiese, auf Abruf, ohne Gewähr. Selbst die Schutzzonen, Wiedergutmachungs- und Alibi-Inseln, ebendie sogenannten heiligen Haine, welche die Kahlschlagsmentalität in die geschändeten Wälder immerhin hier und da einbaute, wurden nicht verschont. Im 7. Jahrhundert n.Chr. ließ Bengalenkönig Shashanka, fanatischer Anti-Buddhist, den heiligen Bodhibaum Buddhas nicht nur fällen, sondern zusätzlich – wie Mongolen im Mongolensturm, statt nur Menschen, auch Tiere und Pflanzen töteten – die Wurzeln ausgraben und verbrennen, präludierte also das Prinzip Drogen-Razzia an einer ungeeigneten Baumart. Und 723 n. Chr., fällte in Deutschlands unendlichen, straßenlosen, wegelosen, brückenlosen, ungerodeten, unzerstörten, unzersiedelten, unverbauten Sumpfwäldern, genauer: bei Geismar an der Eder, Sankt Bonifatius, vormals Winfrid geheißen, Apostel der Deutschen, den Balken seines christlichen Auges, eine tausendjährige Donareiche, genau wie Shashanka ganz grobstofflich und reell, statt sie wie Jesus bloß mental und symbolisch zu verfluchen oder ihr wie Diogenes von Apollonia kein Denken zuzutrauen. Bonifatius, dieser sublimierte Erysichthon, beging wörtlich dasselbe Delikt wie der vierschrötigste Ur-Erysichthon. Zunächst unbekehrbaren Heiden sollte bewiesen werden, dass deren Götzen den Baum nicht beschützen würden. Und sie beschützten ihn leider tatsächlich nicht – warum eigentlich nicht? Knechtung des weiblichen Prinzips, feministischen Mythologinnen zufolge. Christentum, das sich als Astgabel in Katholizismus usw. aufspaltete, legte sich als silbriger Mehltau auf die angeblich grüne Gesinnung germanischer Wendehälse.

Dschungel domestizierte sich zu englischen Gärten. Französische Gärten ernüchterten sich zu Golfplatz-Rasen. Bäume wurden zu Verkehrshindernissen, angepinkelt von Hund und Mann. Baumgeist und Pflanzenseele hatten für verwesende Holzverbraucher Sargbretter zu liefern. Waldbrände wurden zunehmend abhängig von Streichhölzern aus Holz, Holz contra Holz. Anfangs hatten sogar Radio und Fernsehn hölzerne Gehäuseverschalungen. Aus Buchen wurden Bücher, BILD-Zeitungen und Bibeln, in denen immerhin manchmal zu lesen stand:

„Anno 1539, am 11. tage Aprilis war Dr. MARTINUS LUTHER in seinem Garten / vnd sahe die bume mit tieffen gedancken an / wie sie also schon / vnd lieblich bluheten / knospeten und gruneten / und verwunderte sich sehr daruber / und sprach / Gelobet sey Gott der schopfer / der aus todten verstorbenen Creaturen / im Lentzen alles wieder lebendig machet.“

Also doch wohl ein Anhauch entheogener Empfänglichkeit!? Francesco Petrarca, der einen Berg bestieg, Barthold Heinrich Brockes, der Krokusse schier inniger besang als deren Schöpfer; Rousseau, der eine fast buddhaförmige Erleuchtung unter einem Chausseebaum genoss; Student Anselmus, der Serpentia-Weisheit aus einem Holunderbusch in Dresden wispern hörte; Bruno Wille, dem ein Wacholderbaum zum Bodhibaum wurde; bis hin zu Fred Hageneder, der sich als Teenager, angepöbelt von Neonazis, unter eine Birke setzte und, ergriffen von naturmystischer Erleuchtung, ein Buch über den Geist der Bäume verfasste: alle flossen summiert und potenziert hinein in ein gewaltig sich zurückmeldendes Avalon und überrollten die artfremden Intermezzi Jerusalem und Jericho mit Karneval, Osterspaziergang, zweitem und drittem Frühling, verspäteter Früh- und Spätromantik, mit „La Sacre du printemps“ und Greenpeace. Doch kaum durfte germanischer Löwenzahn, der tausend Jahre versiegelt unter katholischem Straßenbelag ächzte, hervorbrechen, immer unverdrängbarer, legte sich unmetaphorische Asphaltkruste drüber. Denn Straßen sind Lebensadern unserer Wirtschaft.

Umtost von globaler Holzwirtschaft, sah Humanist Johann Gottfried Herder die Pflanze auf dem Weg zu ihrer Humanisierung. Der überaus beseelte Pflanzenphilosoph Gustav Theodor Fechner ward vom Seelenleuchten der Blumen ergriffen. Selbst relativ trockene Systematiker und Rubrizierer wie Carl von Linné hauchten der Pflanze ein Empfindungsleben ein. Nichts sonderlich Neues; denn bereits Tao Yüan Ming (365 – 427) hatte gedichtet: „Die Bäume scheinen mich zu kennen und untereinander zu flüstern.“

Hochsensible Dichter wie Hölderlin (abgeleitet von Holunderbusch) sangen sympathetisch: „Wie gern würd’ ich zum Eichbaum.“ Zuspätromantiker wie Ludwig Tieck, Joseph von Eichendorff und Robert Schumann schwärmten von über mir rauschender, schöner Waldeinsamkeit, so als wollten sie den Deutschen deren Vorfreude auf das anrollende Industriezeitalter prophylaktisch vermiesen.

Traumhafte Erinnerung an ein nie dagewesenes Paradies ließ sich weder plattwalzen noch ausrupfen. Je motorisierter, entseelter, zombiehafter, TÜV-kompatibler, säurefester, streusalzresistenter, abgashärter die Immanenz of modern world vorwärtsknatterte, desto glühender schimmerten schönere Zeiten, samt raunender Holundermütter und Eschengeister, durch den Smog der Ballungszentren. Je mehr der grüngoldene Baum des Lebens in grauer Welt verblasste, desto spärlicher, bedrohter, schimmernder, intensiver grünten Lichtblicke. Vielleicht säuselten die stillen, friedlich romantischen Waldkapellen, mit Bildstock und Rehkitz, Klostergärtlein, Blumenlegenden, durchaus atmosphärischer, versöhnlicher, zärtlicher, inniglicher als dazumal die arg machohaft ritualfixierten historischen Thing-Plätze und heiligen Haine. Nichts gegen Nachzügler-Ökologen und geklonte Esoteriker, die den alten Zwist zwischen heidnischen Baumvergötzern und baumfällenden Christen stets parteilich sehen, andererseits lebten Germanen so nah am Wald, dass sie vor lauter Bäumen die Naturschönheit natürlich nicht im mindesten sahen. Christen aber, durch ihre Abwertung der Natur, sehnten sich umso mehr zurück zur entschwindenden Natur, entwickelten Natursehnsucht, also das Verlangen, ein Lob der Schöpfung zu singen. Im Rückblick avancierte sogar der Garten Gethsemane zum heiligen Hain, allwo ein vorübergehender Anhauch botanischer Lumbini-Wollust im Nachtwind gewährt worden sein könnte, ein säuselndes Proviantpaket der Fata Morgana für den abtrünnigen, emotional verkümmerten, um nicht zu sagen: verdorrten Sohn. Paradiesische Erinnerungszipfel, Idyllen und Spitzweg-Gartenlauben überboten den lapidaren Paradiesmythos an sentimentalisch aufglimmender Tränenseligkeit.

Hylozoistische, panpsychistische und Pan huldigende Theorien keimten auf: Elfen gäbe es nur deshalb nicht mehr, weil keiner mehr im Wald onaniert. Esoterikerinnen, neue Hexen, Anthroposophinnen nehmen paracelsische Elementargeister, die mit Gott das Schicksal allzu weitgehender Unsichtbarkeit teilen, so wörtlich wie möglich, können die Wesenheiten und Geistwesen selbst noch im Nutzholzbestand spüren – Trimmdichpfad kein Hindernis.

Durch Knoblauch-Vampire und französisch tändelnde, nach Vertrickfilmung schreiende Naturgeister, Blütenelfen, Märchenfeen schimmerten gotische Entitäten wie Incubus, Succubus und Alben nur abgeschwächt. Und die Drollerien, Quellgeister, Reigen seliger Geisterlein, Gaukelkinder und Pustejungs, Wassertröpfchen Binkleblink, Liebseelchen und Sonnenscheinchen in Schmetterlingsgondeln, Seelenbäume von 1913, Nachkriegsnöcke, Wurzelkinder, Wiesenzwerge mit Pilzhut, Erdenstäubchen, all dies entzückend ätherisch, sylphisch, gnomisch wimmelnde Leben auf Fußhöhe, die ganze Grasnarben-Romantik auf Gartenzwerg-Niveau, veräußerlichte sich in den Farbfotobänden ach wie nutellasüßer Wohlfühl-Babys, die in Blumentöpfen und Erbsenschoten schlummern.

Sieben Minuten vor zwölf, kurz bevor Waldsterben weltweit loslegte, verfassten Trygve Gulbranssen und Ludwig Ganghofer ihre ahnungsvoll beschwörenden Titel: „Waldrausch“ und „Und ewig singen die Wälder“. Das ewige Lieblingslied amusischer Holzfäller! Gusto Gräser, barfüßiger Erlöser und Morgenlandfahrer der Wandervogeljahre, von Spießbürgern als Kohlrabiapostel verspottet, schwelgte in Wortprägungen wie „waldverwandt“ und „Waldbold“. Sprachbeherrscher Karl Kraus nannte Leo Tolstoi einen „Grasfresser“, als wär’ der so bespöttelnswert wie Gesundheitspropheten vom Schlage des Turnvaters Jahn. Das scheinbar zahlreiche Erscheinen tröstlicher Weltverbesserer täuschte: Baumfreunde standen stets nur als Solitär auf dem freien Feld der Flurbereinigung, oder als beschnittene Linde im zugepflasterten Bauernhof.

Sechs Wochentage lang randalierte man als Naturbeherrscher, um sonntags die beherrschte Natur mit Naturverbundenheit zu belästigen. Ewig singende Wälder ernüchterten sich zum Naherholungsgebiet. Hochwälder mutierten zum Dickicht der Städte, lianendurchflochtenes Biotop zu Atennenwäldern verdrahteter, verkabelter Stadtlandschaften, Pflanzenteppiche zu Lärmteppichen, Dornenbüsche zu Stacheldrahtzäunen.

Sanktuarien säkularisierten sich zu Naturschutzgebiet. Der heilige Hain profanisierte zum Stadtpark. Grünanlagen entfärbten sich zu Grauanlagen. Stadtbegrünung schrumpfte zum Straßenbegleitgrau. Denn Straßen sind Lebensadern unserer Wirtschaft. Das Verbot, im heiligen Hain Zweige zu brechen, wurde beibehalten: „Urination striktly forbidden!“, „Hunde bitte anleinen!“, „Diesen Park bitte nicht mit Blumensträußen betreten!“ Vernünftige Forstwirtschaft hütete die Restwälder als Rohstoffquelle. Statt Baumgeist – pragmatischer Geist, Stangenholzplantagen, Fichtenmonokultur, preußisch in Reih und Glied. Neuzeitliche Nüchternheit, kurz: NN, infizierte und imprägnierte alles.

In summa

Alles so baumgeistlos. Baumgeist bleibt aus, trotz Wiederaufforstung. Pflanzenseele säuselt kaum noch. Rauscht kaum noch. Leidet vermutlich. Ergraut, staubt ein, treibt unverdrossen weiter aus. Ein Privatparadies nach dem anderen reicht nicht mal mehr einem verlorenen, abgeflachten, verdorbenden Paradies an die Schulter.

Manche versuchen dagegen trotzdem anzukommen. Je öfter die Kirche im Dorf blieb, im Global Village, desto sehnsüchtiger ringelte sich die Bohnenranke des Märchens in den Himmel, und Micky, Goofy und Donald, im Schlaf hinaufgetragen von wachsenden Tentakeln, und deren störbeschleunigten Ein- und Ausrollbewegungen, gelangten zumindest bis zur Mondgöttin Luna.

Plötzlich spitzte neulich sich etwas zu. Der ewige Holzfäller Erysichthon-Jesus-Bonifatius trat in eine neue Runde. Zeitgemäß als Turbokapitalist. Als helikopterschleudernder Holzkonzern. Die Monsterfirma Pazific Lumbers wollte erneut eine tausendjährige Donareiche ernten. In dem Fall einen Red Wood. Doch der Riesenbaum hatte einen weiblichen Schutzgeist. Zunächst knüpfte Julia Hill nur als relativ profane Umweltaktivistin und Baumbesetzerin an den Idealen der grünen, vom nordindischen Gandhianer und Umweltschützer Sunderlal Bahuguna im Himalaja initiierten Chipko-Bewegung der Baumumarmer-innen an, um alsdann zu einer vollgültigen Donna Quixote zu metamorphisieren. Die 748 Tage lang heroisch gegen Übermächte anrannte, tatsächlich gegen Windmühlen; denn die firmeneigenen, Schrecken einjagenden Helikopter von Pazific Lumbers flogen als wörtlich genommene Windmühlenflügel gegen ihr Baumhaus an. Sie stieg also nicht nur empirisch 60 m hoch auf einen Baum, sondern stieg auf zu einer Säulenheiligen, Baumheiligen, des Namens Schmetterling, also Seele, also Baumseele, Baumgöttin, zur telegen interviewbaren Dryade. Pazific Lumbers, unterm Druck medial wachgemachter Weltöffentlichkeit, drehte ab, verschonte den Baum. Als Ikone aller Baumfreunde war Julia Butterfly mit ihrer Aktion erfolgreicher als alle, die sich auf die Schienen der Castor-Transporte setzen – also aufgrund ihres Erfolgs doch kein heilig durchgeknallter Don Quixote? Andererseits holzte Pazific Lumbers, statt diesen einen Red Wood, auf dem sie saß, unterdessen hundert andere ab. Was die Umsatzbilanz überhaupt nicht schwanken ließ. Folglich hatte quantitativ Julia B. Hill doch nichts ausgerichtet mit ihrem Martyrium, Happening, Pantomime. Folglich war sie, dank ihres Misserfolgs, doch ein Don Quixote.

Sie wuchs heroisch in den Himmel; andere murksen unbekannt in Fußhöhe herum. Denn kaum erbrachten Baumbesetzer wie Nate Madsen die gleiche Protestleistung wie Julia Butterfly, wurden sie weniger als ein Hundertstel so weltberühmt wie sie. Denn als Mann reanimiert man nicht die Kollektiverinnerung an zitternde Dryaden und blutende Bäume. Sondern macht sich verdächtig als schief gewickelter, umgepolter, verkappter, verweichlichter Holzfäller. Neben Naturverbundenen, die nicht auf Konfrontation gehen, mit und ohne Moralkeule, sondern die undramatisch, mitten in mitscherlicher Unwirtlichkeit der Städte, nette grüne Gegenwelten pflegen, Haine der Heilung, die die Freunde der Bäume / Amis des Arbres / Friends of the Trees mit gutgemeinten Vokabeln behängen, wie „Friedensprojekte“, und die das Band zwischen Baum und

Mensch erspüren und erneuern wollen, den uralten Bund mit den Bäumen, und hierfür ganzheitliche Baumerfahrungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene planen, anbieten und unterstützen, sieht umgekehrt Julia Butterfly geradezu militant aus, wenn nicht maskulin. Frage an die Wissenschaft: Hat sie eigentlich je ein Apfelbäumchen gepflanzt? Wie Eléard Bouffier, der in der unwirtlichen Hochebene der französischen Alpen ab 1914 täglich hundert Eicheln in den Boden setzte, jahrzehntelang, und somit eher den Archetypus der Gärtnerin erfüllte und also sich der holzfällenden, kriegführenden, fleischessenden Gesellschaft eher als Memme zeigte. Die einen Softies riechen an Blümchen, die andern lassen der Butterfly-Tat nachkleckernde, ausgedünnte Nachwehen folgen, Antiklimax- und Diminuendo-Beispiele privater, regional engagierter Zivilcourage

— gleichwie der Terror-Hit vom 11.9. spätere Kleinanleger nicht hinderte, auch dann Selbstmordattentäter zu werden, wenn dabei nur, in kümmerlicher Unterbietung, zwei, drei Seelen, statt Tausende, mitgerissen wurden: Ein bisher unauffällig gebliebener, unbescholtener Stadtrat und Familienvater, Delf Schnappauf, 52, stellte sich am Ende eines Taufgottesdienstes, 2002 in Wernswig bei Lützelwig, wacker in Trauerkleidung neben frisch umgelegten Kirchhofbäumen auf: „Diese Birken werden keinen Frühling mehr erleben!“ Und musste sich anschließend vom Herrn Pfarrer ermahnen, zurechtweisen, anpöbeln lassen, also von arg kleinformatigem Pazific Lumbers, auf Bonifatius-Niveau zurückgestuft und eingedampft. Ohne von stilistischen Wurzeln viel zu ahnen, hielt der Herr Pfarrer das ärmliche Kruzifix des Todes erneut dem Baum des Lebens entgegen. Auch Buddhas Bodhibaum möchte mitschwingen im grünen Fähnchen des Delf Schnappauf, das er einsamer hochhielt als Jesus im Garten Gethsemane, verlorener als jene Sanktuarien, die der prophetenbärtige Pflanzenkünstler Herman de Vries neben Autobahnen, mit Mauer drumrum, zu errichten pflegt, als freiwillige heilige Haine eingesprengt in die Desolatesse unrentabel übernutzter, zersplitterter Restflächen, in Gewerbe- und Fußgängerzonen, z.B. der von Düsseldorf, in der am 12. April 2002 Herman de Vries eine Eiche pflanzte, mit der bonifatiuskritischen Inschrift: „winfryth me caesit. herman me recreavit“ — ein weiterer Versuch, die dendrophobe Schandtat des Bonifatius wiedergutzumachen.

Hier Waldbrandzündeler, da Löschflugzeuge. Hier Weihnachtsbaum-Mafia; da Biotop-Enthusiastinnen und Dendrologinnen (Gehölzkundlerinnen). Hier Bußgeldverhänger contra Baumfrevler, die auf einen Wink von oben die Strafe dann doch nicht verhängen; da das überblickbare Häufchen versprengter Umweltschützerinnen und Restgrüner;

in summa:

Hier der Holzverbrauch-Moloch Menschheit; da die übertönte Gegenmelodie heroischer Minderheiten. Archetyp Holzfäller contra Urpflanze Baumseele. Antithetisch wie isländischer Straßenbauminister und isländische Elfenbeauftragte. Unterscheidbar wie brutaler Animus und holde Anima. Wie Mann und Frau.

Doch die klar geschiedenen Fronten erlaubten sich manchmal Rollentausch. Männer scheinen bisweilen Chrysanthemen gezüchtet zu haben, und dies bereits 200 v. Chr.: Der persische Staatschef Xerxes, ohne als Politiker ein Softie gewesen zu sein, soll an der sympathischen, leider viel zu seltenen Perversion der Dendrophilie gelitten haben, wohl das praktisch einzige erkrankte Fallbeispiel, indem er, laut Sexologe Ernest Borneman, eine lydische Platane geehelicht und geschmückt haben soll. Was aber Herodot kaum erwähnt. Desgleichen hat der indische Staatschef Aschoka, der als Buddhist seinem religiösen Feigenbaum, dem unmittelbaren Nachfahr des Baums, unter dem Buddha Erleuchtung fand, mehr Aufmerksamkeit bezeigt als seiner Zweitgattin Tissarakkha. Und umgekehrt: Frauen können sich als Baumfrevlerinnen entpuppen: Tissarakkha wallte in Eifersucht auf, gegen Aschokas Baum, oder gegen die im Baum ihres Gatten wohnende Baumnymphe, und stach mit einem Mandu-Dorn, mit dem man Bäume verdorren lassen konnte, in den Boddhi-Baum, zweihundertfünfzig Jahre vor Jesus‘ Feigenbaumverfluchung. Einsam und ekelhaft männlich steht Tissarakkha mit ihrem Mandu-Dorn in all den Äonen softieförmiger Naturschützer, Alleenschutzgemeinschaften, Baumdoktoren und Baumnarren, die neben Waldparkplätzen behaupten, der Mensch könne ohne Autos, nicht aber ohne Bäume leben, und die begeistert in höchsten Kronen herumhangeln, wenn auch nicht ganz so elegant und unangeleint wie Tarzan.

Die größte paradoxe Tragik aller Baumfreunde und Baumnarren aber bleibt: Um sensible Verlautbarungen wie Ingeborg-Bachmann-Lyrik „Einmal war ich ein Baum“ unter die Leute zu bringen, oder den Paul-Celan-Vers: „Sooft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum wandelte, schrie sein jüngstes Blatt“, schreien nicht nur jüngste Blätter, sondern ganze Nadelwaldareale. Wiesenzwerge und Elfen hängen in ihrer Mondnacht an chlorfrei gebleichtem Papier. Ohne Baumfällungen bliebe die Botschaft „Fälle keine Bäume!“ unverbreitet. Waldesrauschen polarisiert sein Publikum in rauschhaft Lauschende und Legastheniker. Das Buch polarisiert seine Leser in solche, die Thesen lesen wie „Der deutsche Wald stirbt!“ Und andere, die Beweise bevorzugen, für deren Erbringung weitere Hektar fallen müssen: „Der deutsche Wald stirbt nachweislich noch lange nicht.“ Wie Jesus sein Leben für Ungerechte und Gerechte, so gibt der Baum wehrlos und unparteilich sein Holz für Kettensägenreklameprospekte wie für Bildbände über geodätische Kuppeln in Biosphärenbäumen, schöne alte Baumgestalten und Baumhäuser.

Wer auch nach seinem Ableben noch mit Pflanzengeist und Pflanzengöttern verbunden bleiben möchte: Wachsender Beliebtheit erfreuen sich neuerdings, neben Feuer-, Ost- und Nordseebestattungen, Friedwald-Baumbestattungen. Die Maismehl-Urne, biologisch überaus abbaubar, nur wenige Tage haltbar, wird zwischen den Wurzeln eines persönlichen Baums verstreut, den man für 770 Euro auf 99 Jahre pachtet; falls man nicht mit zehn Familienmitgliedern und Freunden zusammen unter einem Baum ruhen möchte, für 3600 Euro. Die Grabpflege übernimmt die Natur. Was für Witwen mit Hund den Vorteil hat, dass auch der Hund, der nicht mit darf auf gewöhnliche Friedhöfe, zum Totenbaum seines verstorbenen Herrchens pilgern kann, aber den Nachteil, dass Kerzen, Inschriften, Bilder, Trauerinsignien nicht am Baum angebracht werden dürfen, dafür aber eine arg unnatürlich aussehende Kunststoff-Plakette mit Kundennummer.

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dios ha muerto

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