Die Insel des Tonal

1
Anderntags, gegen Mittag, trafen Don Juan und ich uns wieder im gleichen Park. Er trug immer noch seinen braunen Anzug. Wir setzten uns auf eine Bank; er zog seinen Rock aus, faltete ihn sehr sorgfältig, aber mit überlegener Gleichgültigkeit zusammen und legte ihn auf die Bank. Seine Gleichgültigkeit wirkte sehr einstudiert und dennoch vollkommen natürlich. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn unverwandt anschaute. Er schien zu wissen, welch ein Paradox er mir aufgab, und lächelte. Er rückte seine Krawatte zurecht. Er trug ein beigefarbenes, langärmeliges Hemd. Es kleidete ihn sehr gut.
»Ich habe immer noch meinen Anzug an, weil ich dir etwas sehr Wichtiges sagen will«, meinte er und klopfte mir auf die Schulter. »Gestern hast du dich sehr gut gehalten. Jetzt ist es Zeit, daß wir uns über ein paar abschließende Dinge einigen.« Er machte eine lange Pause. Anscheinend überdachte er seine Worte. Ich hatte ein seltsames Gefühl im Magen. Meine erste Vermutung war, er würde mir die Erklärung der Zauberer mitteilen. Etliche Male stand er auf und ging vor mir auf und ab, als ob es ihm schwerfiele, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»Laß uns doch in das Restaurant da drüben gehen und eine Kleinigkeit essen!« sagte er schließlich.
Er faltete sein Jackett auseinander, und bevor er es anzog, zeigte er mir, daß es ganz gefüttert war. »Es ist tadellos gearbeitet«, sagte er und lächelte, als sei er stolz darauf, als sei ihm viel daran gelegen. »Ich muß dich darauf aufmerksam machen, sonst würdest du es nicht bemerken, und es ist sehr wichtig, daß du es merkst. Du merkst nur dann etwas, wenn du glaubst, du solltest es. Die Bedingung eines Kriegers ist aber, daß er zu jeder Zeit alles merkt.
Mein Anzug und das ganze Drum und Dran sind wichtig, weil es meine Bedingung im Leben darstellt. Oder besser, die Bedingung eines der zwei Teile meiner Ganzheit. Diese Diskussion war schon lange fällig. Ich glaube, jetzt ist die rechte Zeit dafür. Sie muß jedoch korrekt geführt werden, sonst hätte sie gar keinen Sinn. Ich wollte, daß mein Anzug dir das erste Stichwort gibt. Das hat er, glaube ich. getan. Jetzt ist es Zeit zu sprechen, denn was dieses Thema betrifft, so gibt es ohne Sprechen kein völliges Verstehen.«
»Welches Thema denn, Don Juan?«
»Die Ganzheit des Selbst«, sagte er.
Er stand abrupt auf und führte mich in den Speisesaal eines großen Hotels auf der anderen Straßenseite. Ich hatte gerade mein Schreibzeug aus der Tasche geholt und auf den Tisch gelegt, als der Kellner sich plötzlich vor uns aufbaute. Er schien genauso schlechter Laune zu sein. Mit herausfordernder Miene schaute er auf uns herab.
Don Juan bestellte sich ein sehr ausgefallenes Gericht. Ergab seine Bestellung auf, ohne auf die Speisekarte zu schauen, als wisse er sie auswendig. Ich war im Nachteil. Der Kellner war unerwartet aufgetaucht, und ich hatte keine Zeit gehabt, die Speisekarte zu lesen, daher sagte ich ihm, ich wolle das gleiche.
Don Juan flüsterte mir ins Ohr: »Ich wette, sie haben nicht, was ich bestellt habe.«
Er reckte seine Arme und Beine und forderte mich auf, es mir bequem zu machen und mich zu entspannen, denn die Zubereitung des Menüs werde eine Ewigkeit dauern.
»Du befindest dich an einem ganz vertrackten Scheideweg«, sagte er. »Vielleicht ist es der letzte und vielleicht auch der am schwersten verstehbare. Einige Dinge, die ich dir heute erklären will, werden dir wahrscheinlich nie klarwerden. Sie brauchen dir ohnehin nicht klarzuwerden. Laß dich also nicht verwirren oder entmutigen! Wir alle sind dumme Toren, sobald wir die Welt der Zauberer betreten, und sie zu betreten versichert uns in keiner Weise, daß wir uns ändern werden. Manche von uns bleiben dumm bis ans Ende.«
Mir gefiel es, daß er sich selbst zu den Toren rechnete. Ich wußte allerdings, daß er das nicht aus Bescheidenheit tat, sondern es als didaktisches Hilfsmittel einsetzte.
»Mach dir nichts draus, wenn du nicht den Sinn dessen verstehst, was ich dir sagen werde!« fuhr er fort. »In Anbetracht deines Temperaments fürchte ich, du wirst dich halb umbringen, um es vielleicht doch zu verstehen. Tu das nicht! Was ich dir sagen will, soll dir lediglich eine Richtung zeigen.« Plötzlich beschlich mich Angst. Don Juans Ermahnungen zwangen mich zu endlosen Spekulationen. Ganz ähnlich hatte er mich schon bei anderen Gelegenheiten gewarnt, und jedesmal, wenn er dies tat, hatte sich das, wovor er mich warnte, als eine verheerende Sache erwiesen.
»Es macht mich ganz nervös, wenn du so zu mir sprichst«, sagte ich.
»Das weiß ich«, entgegnete er ruhig. »Ich versuche absichtlich, dir auf die Sprünge zu helfen. Ich brauche deine Aufmerksamkeit, deine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
Er machte eine Pause und sah mich an. Unwillkürlich mußte ich nervös lachen. Ich wußte, daß er die dramatische Spannung des Augenblicks hinauszögerte, so gut es ging.
»Dies sage ich dir nicht aus Effekthascherei«, sagte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Ich will dir nur Zeit geben, dich richtig darauf einzustellen.«
In diesem Augenblick blieb der Kellner vor unserem Tisch stehen, um zu verkünden, daß es das, was wir bestellt hatten, nicht gab. Don Juan lachte laut heraus und bestellte Tortillas und Bohnen. Der Kellner lachte verächtlich und meinte, so etwas würde hier nicht serviert. Er schlug statt dessen Steaks oder Hühnchen vor. Wir einigten uns auf eine Suppe.
Wir aßen schweigend. Die Suppe schmeckte mir nicht, und ich konnte sie nicht aufessen, aber Don Juan aß seinen Teller leer.
»Ich habe einen Anzug angezogen«, sagte er unvermittelt, »um dir etwas zu verstehen zu geben , etwas, was du bereits weißt, was aber einer Klärung bedarf, wenn es für dich wirksam werden soll. Ich habe bis jetzt gewartet, weil Genaro meint, daß du nicht nur gewillt sein mußt, den Weg des Wissens auf dich zu nehmen, sondern daß deine Bemühungen selbst makellos genug sein müssen , um dich dieses Wissens würdig zu erweisen. Du hast es gut gemacht. Jetzt will ich dir die Erklärung der Zauberer sagen.«
Wieder machte er eine Pause, rieb sich die Wangen und bewegte die Zunge im Mund, als ob er seine Zähne befühlte. »Ich werde dir jetzt etwas über das Tonal und das Nagual erzählen«, sagte er und sah mich eindringlich an.
Dies war das erste Mal, seit wir uns kannten, daß er diese beiden Begriffe erwähnte. Aus der anthropologischen Literatur über die Kulturen Zentralmexikos war ich ungefähr mit ihnen vertraut. Ich wußte, daß das »Tonal« (gesprochen toh-na'hl )als eine Art Schutzgeist-in der Regel ein Tier-vorgestellt wurde, den ein Kind bei der Geburt erhielt und mit dem es sein Leben lang eine enge Bindung unterhielt. »Nagual« (gesprochen: nah'wa'hl) war der Name des Tieres, in das ein Zauberer sich angeblich verwandeln konnte, oder des Zauberers, der eine solche Verwandlung vornahm.
»Dies ist mein Tonal«. sagte Don Juan und strich sich mit den Händen über die Brust.
»Dein Anzug?«
»Nein, meine Person.«
Er klopfte sich auf die Brust, die Schenkel und die Rippen. »All dies ist mein Tonal.«
Er erklärte, daß jeder Mensch zwei Seiten habe, zwei getrennte Wesenheiten , zwei Gegenstücke, die im Augenblick der Geburt ihr Dasein aufnehmen : das eine heiße das »Tonal«, das andere das »Nagual«.
Ich erzählte ihm , was die Anthropologen über die beiden Begriffe wüßten. Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen.
»Meinetwegen. Was du auch darüber zu wissen glaubst, es ist barer Unsinn«, sag te er. »Diese Behauptung gründe ich auf die Tatsache, daß alles, was ich dir über das Tonal und das Nagual sage, dir unmöglich vorher hätte gesagt werden können. Jeder Idiot wüßte, daß du nichts darüber weißt, denn um mit diesen Begriffen vertraut zu sein, müßtest du ein Zauberer sein, und das bist du nicht. Oder du hättest darüber mit einem Zauberer sprechen müssen , und das hast du nicht. Vergiß also alles, was du bisher darüber gehört hast, denn es trifft nicht zu!«
»Es war doch nur als Kommentar gemeint«, sagte ich.
Er hob die Brauen und schnitt ein komisches Gesicht. »Deine Kommentare sind fehl am Platz«, sagte er. »Diesmal brauche ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit, denn ich werde dich mit dem Tonal und dem Nagual vertraut machen. Die Zauberer haben ein besonderes, einzigartiges Interesse an diesem Wissen. Ich möchte sagen, Tonal und Nagual sind ausschließlich den Wissenden zugänglich. In deinem Fall ist dies sozusagen der Deckel, der alles abschließt, was ich dich bisher gelehrt habe. Darum habe ich bis jetzt gewartet, um dir davon zu erzählen.
Das Tonal ist nicht ein Tier, das über einem Menschen wacht. Eher könnte man sagen, es ist ein Wächter, den man sich als ein Tier vorstellen kann. Aber dies ist nicht die entscheidende Frage.«
Er lächelte und zwinkerte mir zu. »Ich will jetzt mal deine eigenen Worte gebrauchen«, sagte er. »Das Tonal ist die soziale Person.«
Er lachte, wie ich annahm, über mein bestürztes Gesicht. »Das Tonal gilt, mit Recht, als ein Beschützer, ein Wächter â€"ein Wächter, der sich meistens in einen Wärter verwandelt.« Ich fummelte an meinem Notizbuch herum. Ich versuchte mitzubekommen, was er sagte. Er lachte und äffte meine nervösen Bewegungen nach.
»Das Tonal ist der Organisator der Welt«, fuhr er fort. »Vielleicht kann man seine gewaltige Arbeit am besten beschreiben, wenn man sagt, daß auf seinen Schultern die Aufgäbe ruht, das Chaos der Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man - wie die Zauberer - behauptet, daß alles, was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal ist.
Im Augenblick zum Beispiel ist es dein Tonal, das versuch t, unser Gespräch zu verstehen . Ohne dieses gäbe es nur komische Geräusche und Grimassen , und du würdest nichts von alledem verstehen, was ich sage.
Ich sage also, das Tonal ist ein Wächter, der etwas Kostbares bewacht, unser ganzes Sein. Daher ist es eine wesentliche Eigenschaft des Tonal, daß es bei seinem Tun vorsichtig und bedachtsam ist. Und da seine Taten der bei weitem wichtigste Teil unseres Lebens sind, ist es kein Wunder, daß es sich schließlich bei jedem von uns aus einem Wächter in einen Wärter verwandelt.«
Er hielt inne und fragte mich, ob ich verstanden hätte. Automatisch nickte ich bestätigend, und er lächelte mit ungläubiger Miene.
»Ein Wächter ist großzügig und verständnisvoll«, erklärte er. »Ein Wärter dagegen ist ein Sicherheitsorgan, engherzig und meistens despotisch. Ich behaupte also, daß das Tonal bei uns allen zu einem kleinlichen, despotischen Wärter gemacht wird, während es doch ein großzügiger Wächter sein sollte.« Zweifellos konnte ich dem Gang seiner Erläuterung nicht folgen. Ich hörte zwar jedes Wort und schrieb es mit, und doch hing ich irgendwie einem eigenen inneren Dialog nach.
»Es fällt mir sehr schwer, dir zu folgen«, sagte ich.
»Würdest du dich nicht an dein Selbstgespräch klammern, dann hättest du keine Schwierigkeiten«, sagte er scharf.
Diese Bemerkung veranlaßte mich zu einer langen, weitschweifigen Erklärung. Schließlich fing ich mich wieder und en tschuldigte mich für meine beharrliche Selbstrechtfertigung.
Er lächelte und machte eine Gebärde, die anzudeuten schien, daß er sich nicht wirklich über mein Verhalten geärgert hatte. »Das Tonal, das ist alles, was wir sind «, fuhr er fort. »Schau dich um! Alles, wofür wir Wörter haben, ist das Tonal. Und da das Tonal nichts anderes ist als sein eigenes Tun, muß folglich alles in seine Sphäre fallen.«
Ich erinnerte ihn daran, daß er gesagt hatte, das »Tonal« sei die soziale Person - ein Begriff, den ich selbst ihm gegenüber verwendet hatte, um den Menschen als Endresultat von Sozialisierungsprozessen zu bezeichnen. Falls das »Tonal« dieses Produkt sei, führte ich aus, könne es nicht »alles« sein, wie er gesagt hatte, denn die uns umgebende Welt sei nicht das Produkt einer Sozialisation.
Don Juan verwies mich darauf, daß mein Einwand für ihn gegenstandslos sei, denn er habe mir schon vor langem erklärt, daß es keine Welt schlechthin gebe, sondern nur eine Beschreibung der Welt, die wir uns vorzustellen und als gesichert hinzunehmen gelernt hätten.
»Das Tonal ist alles, was wir kennen«, sagte er. »Ich meine, dies allein ist ein zureichender Grund, warum das Tonal eine so überragende Bedeutung hat.«
Er ließ eine Pause entstehen. Zweifellos wartete er auf eine Bemerkung oder Frage von mir, aber mir fiel nichts ein. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, eine Frage zu stellen. und so bemühte ich mich, etwas Passendes zu formulieren. Es gelang mir nicht. Vielleicht, so meinte ich, wirkten die Warnungen, mit denen er unser Gespräch eröffnet hatte, als Abschreckung gegen jegliches Nachfragen meinerseits. Ich war seltsam betäubt. Ich konnte meine Gedanken nicht sammeln noch ordnen. Tatsächlich spürte und wußte ich ohne den leisesten Zweifel, daß ich nicht zu denken vermochte, und doch wußte ich dies, ohne es zu denken, wenn so etwas überhaupt möglich war.
Ich blickte Don Juan an. Er starrte auf meine Körpermitte. Dann hob er den Blick, und sofort kehrte mein klares Denken wieder.
»Das Tonal ist alles, was wir kennen«, wiederholte er langsam. »Und dies schließt nicht nur uns als Personen ein, sondern alles in unserer Welt. Man kann sagen, das Tonal ist alles, worauf unser Auge fällt.
Bereits im Augenblick unserer Geburt beginnen wir es zu hegen und zu pflegen. In dem Moment, da wir den ersten Atemzug tun, atmen wir auch Kraft für das Tonal ein: es trifft also zu, daß das Tonal eines Menschen eng mit seiner Geburt verbunden ist.
Dieses Faktum mußt du im Sinn behalten. Es ist sehr wichtig, um all dies zu verstehen. Das Tonal beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.«
Ich wollte alle seine Behauptungen gern noch einmal zusammenfassen. Ich war sogar schon so weit, daß ich meinen Mund aufmachte, um ihn zu bitten, mir die wesentlichen Punkte unseres Gesprächs zu wiederholen, aber zu meiner Verwunderung konnte ich kein Wort hervorbringen. Ich erlebte eine ganz eigenartige Lähmung, meine Zunge war schwer, und ich hatte keinerlei Kontrolle über diese Empfindung.
Ich schaute Don Juan an, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich nicht sprechen konnte. Wieder starrte er auf meine Magengegend.
Er hob den Blick und fragte, wie ich mich fühlte. Die Wörter sprudelten nur so aus mir heraus, als sei ein Riegel fortgeschoben worden. Ich erzählte ihm, daß ich gerade das eigenartige Gefühl gehabt hätte, nicht sprechen noch denken zu können, dennoch seien meine Gedanken kristallklar gewesen.
»Deine Gedanken waren also kristallklar?« fragte er.
Nun erkannte ich, daß diese Klarheit sich nicht auf meine Gedanken, sondern auf meine Wahrnehmung der Welt bezog.
»Machst du eigentlich irgend etwas mit mir. Don Juan?« fragte ich.
»Ich versuche, dich davon zu überzeugen, daß deine Einwände unnötig sind«, sagte er und lachte.
»Du meinst, du möchtest nicht, daß ich Fragen stelle?« »Nein, nein, Frag nur alles, was du willst, aber laß nicht in deiner Aufmerksamkeit nach.«
Ich mußte zugeben, daß ich durch die Ungeheuerlichkeit des Themas zerstreut gewesen war.
»Ich verstehe immer noch nicht, Don Juan, was du mit der Feststellung meinst, daß das Tonal Alles sein soll«, meinte ich nach kurzer Pause.
»Das Tonal ist das, was die Welt schafft.«
»Ist das Tonal der Schöpfer der Welt?«
Don Juan kratzte sich am Kopf.
»Das Tonal schafft die Welt - das ist nur eine bildliche Redeweise. Es kann nichts erschaffen oder verändern, und doch schafft es die Welt, denn es ist seine Funktion, zu urteilen, zu bewerten und zu bezeugen. Ich sage, das Tonal schafft die Welt, denn es bezeugt und bewertet sie gemäß den Regeln des Tonal. Auf ganz seltsame Weise ist das Tonal ein Schöpfer, der nichts erschaffen kann. Mit anderen Worten, das Tonal stellt die Regeln auf, nach denen es die Welt begreift. Also erschafft es sozusagen die Welt.«
Er summte ein volkstümliches Lied, wobei er den Rhythmus mit den Fingern auf der Stuhllehne trommelte. Seine Augen leuchteten; sie schienen Funken zu sprühen. Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Du kannst mir nicht folgen«, sagte er lachend.
»Aber doch! Es macht mir keine Mühe«, sagte ich, aber es klang nicht sehr überzeugend.
»Das Tonal ist eine Insel«, erklärte er. »Am besten kann man es beschreiben, wenn man sagt, dies hier ist das Tonal.« Er strich mit der Hand über die Tischplatte.
»Man kann sagen, das Tonal ist wie diese Tischplatte. Eine Insel. Und auf dieser Insel haben wir alles mögliche. Diese Insel ist also die Welt.
Hier gibt es ein persönliches Tonal für jeden von uns. und da ist zu jedem gegebenen Zeitpunkt ein kollektives für uns alle, das wir als das Tonal der Zeiten bezeichnen können.«
Er deutete auf die Tischreihen im Restaurant.
»Schau! Jeder Tisch zeigt das gleiche Bild. Auf allen gibt es gewisse Gegenstände. Doch sie unterscheiden sich im einzelnen von einander. Auf manchen Tischen findet sich mehr als auf anderen. Verschiedene Speisen stehen auf ihnen, verschiedene Teller, da ist eine unterschiedliche Atmosphäre, und doch müssen wir zugeben, daß alle Tische in diesem Restaurant sich sehr ähnlich sind. Das gleiche gilt für das Tonal. Man kann sagen, es ist das Tonal der Zeiten, was uns einander ähnlich macht, genau wie es alle Tische in diesem Restaurant sich gleichen läßt. Dennoch ist jeder Tisch für sich ein Einzelfall, genau wie das persönliche Tonal eines jeden von uns. Doch das entscheidende Faktum, das wir nicht vergessen dürfen, ist, daß alles, was wir über uns selbst und über unsere Welt wissen, sich auf der Insel des Tonal befindet. Siehst du. was ich meine?«
»Wenn das Tonal all das ist, was wir über uns und unsere Welt wissen, was ist dann das Nagual?«
»Das Nagual ist derjenige Teil von uns, der uns ganz unzugänglich ist.«
»Wie bitte?«
»Das Nagual ist der Teil von uns, für den es keine B eschreibung gibt - keine Wörter, keine Namen, keine Gefühle, kein Wissen.«
»Das ist ein Widerspruch, Don Juan. Wenn es nicht gefühlt oder beschrieben oder benannt werden kann , dann kann es meiner Meinung nach nicht existieren.«
»Nur deiner Meinung nach ist es ein Widerspruch . Ich habe dich schon gewarnt, bring dich nicht um im Bemühen , dies zu verstehen.«
»Würdest du sagen, das das Nagual der Geist ist ?«
»Nein. Der Geist ist nur ein Gegenstand auf dem Tisch. Der Geist ist Teil des Tonal. Sagen wir einmal, der Geist ist diese Chiliflasche.«
Er nahm eine Gewürzflasche und stellte sie vor mir auf den Tisch.
»Ist das Nagual die Seele?«
»Nein. Auch die Seele gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir einmal an, die Seele sei der Aschenbecher.«
»Sind es die Gedanken der Menschen?«
»Nein. Auch die Gedanken sind auf dem Tisch. Die Gedanken sind das Besteck hier.« Er nahm eine Gabel und legte sie neben die Chiliflasche und den Aschenbecher.
»Ist es ein Zustand der Gnade? Der Himmel?«
»Nein, das auch nicht. Das, was es auch sein mag, ist ebenfalls Teil des Tonal. Sagen wir, es sei die Serviette.«
Ich fuhr fort und zählte alle Möglichkeiten der Beschreibung auf für das, was er meinen mochte: Intellekt, Psyche, Energie, Lebenskraft, Unsterblichkeit, Lebensprinzip. Für jeden Begriff, den ich nannte, fand er auf dem Tisch einen Gegenstand, den er als Gegenstück benutzte und vor mir aufbaute, bis er alle auf dem Tisch befindlichen Objekte auf einem Haufen versammelt hatte.
Don Juan schien die ganze Sache ungeheuren Spaß zu machen. Er kicherte und rieb sich die Hände, sooft ich eine weitere Möglichkeit erwähnte.
»Ist das Nagual das höchste Wesen? Der Allmächtige, Gott?«
»Nein. Auch Gott gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir an, Gott sei das Tischtuch.«
Er machte eine spaßige Gebärde, als wolle er das Tischtuch an den Zipfeln hochheben, um es über die anderen Gegenstände zu breiten, die er vor mir aufgestellt hatte.
»Aber sagtest du nicht, daß Gott nicht existiert?«
»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, daß das Nagual nicht Gott ist, denn Gott ist ein Gegenstand unseres persönlichen Tonal und des Tonal der Zeiten. Wie schon gesagt, das Tonal ist alles, woraus die Welt sich, wie wir glauben, zusammensetzt - einschließlich Gott, natürlich. Gott hat nicht mehr Bedeutung, als daß er ein Teil des Tonal unserer Zeit ist.«
»In meinem Verständnis, Don Juan, ist Gott alles. Sprechen wir überhaupt über dasselbe?«
»Nein. Gott ist nur all das, was du zu denken vermagst, daher ist er, genaugenommen, nur einer unter den Gegenständen auf der Insel. Man kann Gott nicht willentlich erleben, man kann nur über ihn sprechen. Das Nagual hingegen steht dem Krieger zu Gebot. Man kann es erleben, aber man kann nicht darüber sprechen.«
»Wenn das Nagual keines der Dinge ist. die ich genannt habe, kannst du mir dann vielleicht etwas über seinen Aufenthaltsort sagen? Wo ist es?«
Don Juan fegte mit der Hand durch die Luft und wies auf den Raum außerhalb der Tischkanten. Er bewegte die Hand, als wollte er eine imaginäre Oberfläche säubern, die über die Kanten des Tisches hinausreichte.
»Das Nagual ist dort«, sagte er. »Dort, es umgibt die Insel. Das Nagual ist dort, wo die Kraft schwebt.
Vom Augenblick unserer Geburt an fühlen wir, daß wir aus zwei Teilen bestehen. Zum Zeitpunkt der Geburt und noch kurz danach sind wir nur Nagual. Dann fühlen wir, daß wir. um zu funktionieren, ein Gegenstück zu dem brauchen, was wir haben. Was fehlt, ist das Tonal, und dies gibt uns von Anfang an ein Gefühl der Unvollkommenheit. Dann fängt das Tonal an zu wachsen, und es wird ungemein wichtig, so wichtig, daß es den Glanz des Nagual verdunkelt, es zurückdrängt. Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal sind, tun wir nichts anderes, als jenes alte Gefühl der Unvollkommenheit zu verstärken, das uns seit dem Augenblick unserer Geburt begleitet und das uns beständig sagt, daß es noch einen anderen Teil braucht, um uns zu vervollständigen.
Von dem Augenblick an. da wir ganz Tonal werden, fangen wir an, Paare zu bilden. Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir, daß unsere zwei Teile Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut und Böse. Gott und Satan. Aber nie erkennen wir. daß wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paaren zusammenfassen, ganz ähnlich wie wenn wir Kaffee und Tee. Brot und Tortillas, Chili und Senf paarweise bezeichnen. Wir sind komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunkel, und in unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen.«
Don Juan stand auf und sprach mich an, als sei er ein Volksredner. Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich und ließ seinen Kopf zittern.
»Der Mensch bewegt sich nicht zwischen Gut und Böse«, sagte er in einem fröhlich rhetorischen Tonfall und griff mit beiden Händen nach Pfeffer und Salz. » In Wirklichkeit bewegt er sich zwischen Negativität und Positivität.«
Er ließ die Salzund Pfefferstreuer fallen und griff nach Messer und Gabel.
»Du irrst! Es gibt keine Bewegung«, fuhr er fort, als ob er sich selbst widerspräche. »Der Mensch ist nur Geist!«
Er griff zur Chiliflasche hob sie hoch. Dann stellte er sie hin. »Wie du siehst«, sagte er leise, »können wi r ohne weiteres Chiliflasche für Geist einsetzen und schließlich feststellen: Der Mensch ist nur Chilisoße! Wenn wir dies tun, machen wir uns nur noch verrückter, als wir schon sind.«
»Ich fürchte, ich habe nicht die richtige Frage gestellt«, sagte ich. »Vielleicht verstünden wir uns besser, wenn ich fragte, was sich im einzelnen in diesem Raum außerhalb der Insel befindet?«
»Das zu beantworten ist unmöglich. Würde ich sagen: Nichts, dann würde ich das Nagual nur zu einem Teil des Tonal machen. Man kann nichts anderes sagen, als daß man dort, jenseits der Insel, das Nagual findet.«
»Aber wenn du es das Nagual nennst, bringst du es dann nicht ebenfalls auf der Insel unter?« »Nein. Ich habe ihm nur einen Namen gegeben, weil ich dich darauf aufmerksam machen wollte.«
»Na schön! Aber indem ich darauf aufmerksam werde, tue ich doch den Schritt, der das Nagual zu einem weiteren Gegenstand meines Tonal macht.«
»Ich fürchte, du verstehst nicht. Ich habe das Tonal und das Nagual als ein echtes Paar benannt. Etwas anderes habe ich nicht getan.«
Er erinnerte mich daran, daß ich einmal, als ich ihm erklären wollte, warum mir so viel am Sinn der Wörter gelegen sei, die Vorstellung erörtert hatte, daß Kinder vielleicht nicht imstande sind, den Unterschied zwischen »Vater« und »Mutter« zu verstehen, bevor sie nicht eine Entwicklungsstufe erreicht haben, auf der sie mit Sinn umgehen können, und daß sie vielleicht glauben konnten, »Vater« bedeute, Hosen tragen<, und »Mutter« bedeute, Röcke trägem - oder andere Unterschiede hinsichtlich Haartracht, Körpergröße oder Kleidung. »Sicher tun wir dasselbe mit unseren zwei Teilen«, sagte er. »Wir fühlen, daß es noch eine andere Seite von uns gibt. Aber sobald wir versuchen, diese andere Seite festzumachen, gelangt das Tonal ans Ruder, und als Kommandant ist es ziemlich kleinlich und eifersüchtig. Es blendet uns mit seiner List und zwingt uns, auch noch die leiseste Ahnung von dem anderen Teil des echten Paares, dem Nagual. auszutilgen.«
And I'll spread my wings 'till sun and moon, singing the song of life, dancing the dance of life, becoming life itself, no longer knowing, that I am.

Re: Die Insel des Tonal

2
KENA-UPANISHAD

Von wem ist der Geist ausgesandt,
daß er hinausgesandt umherschweift?
Von wem ist der Odem in Tätigkeit versetzt,
daß er als erster kommt?
Von wem ist die Rede ausgesandt,
die man redet?
Welcher Gott versetzt Auge und Ohr in Tätigkeit?

Das Hören des Ohres,
das Denken des Geistes,
das Reden der Stimme,
das Atmen des Odems,
das Sehen des Auges,
alles geben die Weisen auf
und werden nach dem Scheiden
aus dieser Welt unsterblich.

Dorthin dringt nicht das Auge,
nicht die Stimme, nicht der Geist.

Wir wissen nicht,
wir verstehen nicht,
wie man das lehren könnte.

»Es ist anders als das Bekannte
und als das Unbekannte«,
so hörten wir von den Alten,
die uns das erklärten.

Denn das,
was mit der Rede nicht betrachtet werden kann,
aber selbst die Rede hervorbringt,
das, wisse, ist Brahman;
nicht das, was man hier verehrt.

Was man mit dem Geist nicht denkt,
aber selbst den Geist denkt,
das, wisse, ist Brahman;
nicht das, was man hier verehrt.

Was man mit dem Auge nicht sieht,
wodurch aber das Auge sieht,
das, wisse, ist Brahman;
nicht das, was man hier verehrt.

Was man mit dem Ohr nicht hört,
wodurch aber das Ohr hört,
das, wisse, ist Brahman;
nicht das, was man hier verehrt.

Was man mit dem Odem nicht atmet,
wodurch aber der Odem geatmet wird,
das, wisse, ist Brahman;
nicht das, was man hier verehrt.

»Wenn du meinst: "Ich weiß es vortrefflich",
so heißt das nicht viel.
Du kennst nur die Erscheinungsform des Brahman und weißt,
was davon du bist und was davon unter den Göttern ist.«

»Dann ist es weiter zu erforschen. Dir ist es, glaube ich, bekannt.«

»Nicht glaube ich, daß ich es gut weiß; nicht weiß ich, daß ich es nicht weiß.«

»Wer von uns das weiß, weiß es; nicht weiß er, daß er es nicht weiß.«

»Wer es nicht denkt, der denkt es.
Wer es denkt, der weiß es nicht.
Unbekannt bleibt es dem Kundigen;
bekannt aber ist es dem Unkundigen.

Wem es durch Erweckung bekannt geworden,
der gewinnt Unsterblichkeit.
Durch sich gewinnt er dann Kraft,
durch Wissen erlangt er Unsterblichkeit.

Wenn er es hier erkannte,
dann ist sein die Wahrheit,
wenn er es hier nicht erkannte,
ist sein das Leiden.

Wenn es die Weisen in allen Wesen erkennen,
werden sie beim Abscheiden aus dieser Welt unsterblich.«

Einst gewann das Brahman einen Sieg für die Götter.
Da brüsteten die Götter sich ob des Sieges des Brahman.
Sie dachten: »Unser ist dieser Sieg, unser ist diese Größe.«
Das Brahman erkannte sie; es machte sich ihnen offenbar.
Sie erkannten es aber nicht und fragten,
»was für ein Zauberding ist das«.
Sie sprachen zu Agni (Feuer):
»Jâtavedas, siehe nach,
was das für ein Zauberding ist.«
»Ja«, sprach er.
Er stürmte darauf los.

Das sprach zu ihm: »Wer bist du?«
»Agni«, sagte er, »bin ich; Jâtavedas bin ich.«
»Wenn du der bist, worin besteht deine Stärke?«
»Ich vermag alles zu verbrennen, was immer auf der Erde ist.«
Es warf ihm einen Grashalm hin: »Verbrenne den.«
Er lief mit allem Ungestüm darauf zu.
Er vermochte ihn nicht zu verbrennen.
Er kehrte daher zurück und sprach:
»Ich vermochte nicht zu erkennen,
was für ein Zauberding das ist.«

Da sprachen sie zu Vâyu (Wind):
»Vâyu, siehe nach,
was für ein Zauberding das ist.«
»Ja«, sprach er. Er stürmte darauf los.
Das sprach zu ihm: »Wer bist du?«
»Vâyu«, erwiderte er, »bin ich, Mâtarishvan bin ich.«
»Wenn du der bist, worin besteht deine Stärke?«
»Ich vermag alles an mich zu nehmen, was auf der Erde ist.«
Es warf ihm einen Grashalm hin.
»Nimm den an dich.« Er lief mit allem Ungestüm darauf los.
Er vermochte nicht, ihn an sich zu nehmen.
Er kehrte daher zurück.
Nicht vermochte er zu erkennen,
was das für ein Zauberding ist.

Da sprachen sie zu Indra:
»Herr, siehe nach,
was für ein Zauberding das ist.«
»Ja«, sprach er. Er stürmte darauf los.
Vor ihm verbarg es sich.
Er traf in diesem Raum eine sehr schöne Frau.
Es war Uma, die Tochter des Himavat.
Er sprach zu ihr: »Was ist das für ein Zauberding?«
»Das ist Brahman«, erwiderte sie;
»das Brahman, in dessen Siege ihr euch brüstet.«
Da wußte er, daß es Brahman war.

Darum sind diese Götter Agni, Vâyu, Varuna mehr als alle Götter;
denn sie berührten es am unmittelbarsten.
Sie hatten zuerst erkannt, daß es Brahman war.
Darum ist Indra mehr als die anderen Götter;
denn er berührte es am unmittelbarsten;
er hatte zuerst erkannt, daß es Brahman war.

In bezug darauf gilt diese Unterweisung: was am Blitz das ist, daß es blitzt
und man mit Ah! die Augen schließt - dieses »Ah« ist die Unterweisung in bezug auf die Gottheit.

In bezug auf das Ich gilt: wenn dieses (Brahman) in den Geist einzutreten scheint
und das Vorstellungsvermögen durch diesen sich intensiv seiner erinnert.

Es heißt mit Namen: Tadvanam: »das Seiner-Begehren«.
Als »das Seiner-Begehren« muß man es studieren.
Wer solches weiß, nach dem sehnen sich alle Wesen.

»Sage mir, Herr, die geheime Lehre (die Upanishad).«
»Gesagt ist dir die Upanishad. Vom Brahman die Upanishad, die sagte ich dir.«

Für sie ist Askese, Selbstbezwingung und Handlung die Grundlage, die Veden die Teile, die Wahrheit die Stütze. Wer sie in der Weise kennt, der verscheucht das Übel. In der unendlichen, unbezwinglichen Himmelswelt hat er fest seinen Stand.
And I'll spread my wings 'till sun and moon, singing the song of life, dancing the dance of life, becoming life itself, no longer knowing, that I am.

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