Das Leben ist ein Wartesaal
Eine Kolumne von Sibylle Berg
Wir alle warten auf etwas - nur wissen wir leider nicht, auf was. Ganz schön anstrengend, dieses Leben im Stand-by-Modus.
Die Freude hatte sie über den Winter gebracht. Das Betrachten der Meerbilder, der Hotelbilder, das Einfühlen in Traumsituationen, das Träumen, das Hoffen, der Urlaub - endlich Urlaub auf, sagen wir, Gran Canaria. Da war sie noch nicht gewesen.
Drei Wochen, Strand, Massagen, einsame Spaziergänge, Wind im Gesicht. Da konnte es draußen noch so kalt sein, sie noch so früh am Küchentisch sitzen, noch so tränende Augen im Neonlicht haben: Sie lebte, um in diesen Urlaub zu fahren, den hatte sie sich verdient mit dem Absitzen in unwirklichen Räumen.
Dann ging es los und alles schief. Die Bilder deckten sich nicht mit der Realität, die war zu hell und zu heiß, das Hotel zu sehr Plastik, die Menschen zu laut und der Wind zu stark. Und über allem lag ein Elend. Irgendwo herumlaufen, Tourist sein, wie blöd ist das denn? Sie saß und zählte die Tage bis zur Heimreise. Und wieder daheim wartete sie, dass sie wieder zur Arbeit konnte. Auf der Arbeit wartet sie auf den Feierabend. Und so weiter. Das Prinzip ist klar, der Song dazu auch: "Und du wartest" von Element of Crime.
Aber die Antwort fällt einem nicht ein, auf die Frage, die hinter dem Warten steht. Das Warten ist Hoffen auf ein Leben, das sich anfühlt wie das, von dem man glaubt, das andere es haben. Die im Fernsehen. Es muss gar nicht mit Reichtum zu tun haben, dieses Leben, nach dem man sich sehnt, es muss nur intensiv sein. Wie die kurzen Momente Adrenalinrausch, nach denen Mountainbiker und Marathonläufer so süchtig sind. Oder dieses Gefühl, wenn man sich verliebt und vergisst und wahnsinnig ist, so sollte das doch sein, das Leben, alles - nur nicht mehr dieses zähe Warten in der Langweile, in der Berechnung, in der Erwartbarkeit.
Studieren nicht Buddhisten Jahrzehnte an diesem Im-Moment-Sein herum? Sollen wir jetzt auch noch Buddhisten werden, wo wir gerade eine neue Wohnung gefunden haben? Ein Leben im Wartezustand gebiert seltsame Fantasien. Dass sich eine Intensität durch die Vaterlandsliebe einstellen möchte zum Beispiel. Nationale Gefühle als Religionsersatz. Kann kurz die Leere füllen, aber eben nur kurz.
Was tut man, wenn das Land von Schmarotzern befreit ist, wenn die Auen wieder grün sind, die Sozialhilfe gerecht verteilt wurde? Man wartet. Es ist wie Hunger haben und nicht wissen, worauf. Es hat vermutlich mit dem falschen Lebensentwurf zu tun, in dem sich viele bewegen, den Anforderungen, die die Gesellschaft scheinbar an einen stellt.
Sich sauber kleiden. Was man angefangen hat, zu Ende bringen. Muss ja abbezahlt werden, gearbeitet werden, das Leben ist kein Zuckerschlecken, der Umgangston so lange falsch-freundlich bis irgendetwas explodiert und man die Pump Gun unter dem Bett hervorholt. Nicht warten.
Leben, solange es geht, solange es dauert, bewusst das Ei schälen, voller Freude den Ausscheidungen winken, authentisch sein - das blödeste Wort der Saison, das nur die Sehnsucht ausdrückt, sich nicht verstellen zu müssen. Sich nicht anpassen, sich nicht verstellen, nicht in vorgefertigten Sätzen und Handlungen funktionieren. Nichts machen, weil es alle so machen.
Aber mach das mal. Man kann doch nicht einfach seinen Entwurf verlassen! Den Job hinwerfen, die Familie verlassen, ans Meer ziehen, den Anzug verbrennen. Einfacher ist es doch, zu warten. Darauf, dass endlich etwas passiert, es kracht, man sich verlässt und endlich nicht mehr so traurig ist, bei Regenwetter sonntags.
http://www.spiegel.de/kultur/gesellscha ... druck.html
Chapeau!
